2010er und 19. Jahrhundert – Back im Spießbürgertum

Foto: Four Music/Apache 207

Mit „Kleine Hure“ von APACHE 207 schließt ein weiteres sexistisches Pop-Jahrzehnt. Viel ist im Zuge der Metoo-Debatte darüber geschrieben worden, dass eine Rape-Culture sich vor allem an Musik festmacht. Frauenhass wurde in Deutschland während der 2000er im Deutschrap Trend und lief in den 2010ern locker weiter. Doch auch im Rockbereich hieß es, dass Sexism sells (TREUE JUNGS – „Du Kleine, Miese Schlampe“). Gemeinhin wird ein Rollback beklagt, der mit einer neuen Spießigkeit korreliert. So haben laut Studien die Deutschen immer später und dann immer weniger Sex. Blickt man historisch in die Zeit des deutschen Ur-Spießbürgertums, in das 19. Jahrhundert, finden sich hier ganz ähnliche Themen.

Various ‎– Still Im Aug‘ Erglänzt Die Träne – Küchenlieder, AMIGA, 1981
Various ‎– Wenn Die Blümlein Draußen Zittern – Küchenlieder, AMIGA, 1986

In der Zeit vor dem Radio sangen die Menschen bei der Arbeit viel vor sich hin, um sich bei Laune zu halten – eine Tugend, die heute kaum noch vorstellbar erscheint. Die damalige Volksliederkultur kennt verschiedene Unter-Genres wie Moritaten- und Liebeslieder. Auch Berufen und Tätigkeiten werden Lieder zugeordnet wie Soldaten, Jägern, Wanderern und „Zigeunern“. Mittendrin findet sich ein Genre, in dem sich Mägde und Dienstmädchen gegenseitig vor Männern und schnellem Sex warnten: die Küchenlieder.

Max Klinger – Eine Mutter II

In den sentimentalen Texten wird mit Verweis auf angeblich wahre Geschichten meist davon erzählt, wie Mädchen verführt, geschwängert und verlassen werden. Meist ist der Selbstmord und/oder Kindesmord die Folge. Das begann schon mit Goethe’s Urfaust. Paradebeispiel wäre der Gassenhauer „Lieschen Ging Im Wald Spazieren“. Aus dem Refrain, der wie das Wehklagen des schwangeren Mädchens über dem Lied hängt, dröhnt die bittere Wahrheit: „Nein, nein, nein, ach nein, von einmal da kann es nicht sein!“ – Doch! Gut möglich, dass es auch für heutige junge Frauen ein böses Erwachen gäbe, wenn wie in Polen Abtreibung wieder generell verboten wäre oder gar Verhütung.

Auch das Thema sexuelle Bedrängung bis hin zur Vergewaltigung nach dem Tanzen wird thematisiert („Sie War Ein Mädchen Voller Güte“). Heutige Rapper übernehmen die lyrische Position des Täters und machen sich über die Mädchen und ihre Partner lustig (KOOL SAVAS feat. SINAN und ERCANDIZE – „Sei Nicht Schüchtern“, PHARRELL WILLIAMS – Blurred Lines). Muss man als Freund Betrug erleben, wird mit Hass gegen die Ex reagiert: ALPA GUN („Schlampe“), MUDI („Schlampe“), JOKER BEATZ feat. SAG („HaZZ“) oder auch die Rockbands KRAFTKLUB („Dein Lied“) und ANTIHELD („Nie Wieder Lieben“). Das war damals kaum anders, vergleiche man nur „Die Mädchen Sind Schlecht“ mit SIDO und B-TIGHT („Alle Frauen Sind Schlampen“).

Max Klinger, Schande

Das Patriarchat will es, dass die „Schande“ der „Entehrung“ immer an den Mädchen und nicht an ihren „Verführern“ kleben bleibt. Nicht nur alte Stücke wie Der Zerbrochene Krug von Kleist oder Woyzeck von Büchner, sondern auch neue Filme wie Hagazussa (2017) erzählen davon.

Wenn heute LANA DEL REY ihrem Ex im Knast ewige Treue verspricht („TV In Black & White“), handelt sie nicht anders als das Mädchen in „Bei Jedem Glockenschlag“. Dass auch Jungs oft untreu sind, wird ebenso angesprochen („Hold Blum der Männertreu“, „Sie War Ein Mädchen Von 18 Jahren“), was sich inzwischen fast nur DIE ÄRZTE trauen („Männer Sind Schweine“, 1998). Auch Solidarität mit schwangeren Frauen kennt man v.a. aus dem Deutschpunk (z.B. WIZO – „Klebstoff“).

In den 2020ern dagegen bräuchte es mehr Rapperinnen und Sänger, die nicht mit zweierlei Maß messen.

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