Foto: neverleavetheclouds
POPTRAVEL. Unter diesem Namen berichten wir in unregelmäßigen Abständen vermehrt von unterwegs: Porträts, Interviews, Konzert- und Festivalberichte im berühmten Blick über den Tellerrand. Und wieder geht es in den hohen Norden …
Nachdem uns die letztjährige Ausgabe des Bergen International Festival so viel Spaß gemacht hat, haben wir nur zu allergernst die Einladung eingenommen, auch diesmal wieder aus der norwegischen Stadt zu berichten. Anders als im letzten Jahr sind wir diesmal allerdings direkt vom ersten Tag am Start – und für einen Tag länger. Bis wir am kommenden Mittwoch, den 21. Mai, mit unserem Ticker loslegen, gibt es im Video oben schon mal Highlights aus 2024 zu sehen. Und hier geht es zum erneut mit faszinierenden Konzerten gespickten kompletten Programm …
Mittwoch, 21. Mai
Foto: neverleavetheclouds
… und wir melden uns aus Bergen, heute bei bestem Wetter! Für die Eröffnungszeremonie hat unser Flug aus dem Popmonitor-HQ Berlin nicht gepasst – die komplette Veranstaltung wurde aber live via YouTube gestreamt uns lässt sich im Video oben noch mal nachsehen. Zur ersten Performance aber werden wir am Start sein: Bühnen-Tausendsassa WILLIAM KENTRIDGE ist der Artist-in-Residence der diesjährigen Ausgabe und bringt zum Auftakt das Musiktheaterstück „The Great Yes, The Great No“, das im vergangenen Jahr im Luma in Arles unfern der Côte d’Azur uraufgeführt wurde, in die Grieghallen. Wir werden berichten …
Foto: neverleavetheclouds
… puh, harte Kost von Kentridge zum Opening. „The Great Yes, The Great No“ ist ein panoptisches Potpourri, eine multimediales, polyglottes Thinkpiece-Oper, die viele, sehr viele Fragen stellt, sich aber nicht zu Antworten bequemt. Und auch nicht zu einem Plot. Dass es um eine Schiffreise im Jahr 1941 von Marseille nach Martinique geht, auf der sich einige (Real-Life-)Intellektuelle (und der Fährmann der Unterwelt) zusammenfinden, bekommt man mithilfe des erfreulicherweise freigebig verteilten Programms noch mit. Auch die Stoßrichtung der Ideen erschließt sich: Es geht um die romantische Verklärung des Kolonialismus, um die ewig blutende Wunde, die mit der Sklaverei in die Menschlichkeit geschlagen wurde, um Freiheit als Erlösung. Doch trotz des Reiserahmens fehlt jede Form von strukturgebender Dramaturgie, und das unerbittliche Gewitter von existenziellen Fragen und wohlgerechtfertigten Akriminationen wird zur Tour de Force. Das mag genau so gewollt sein, Erschöpfung setzt bei aller Aufgeschlossenheit der Thematik gegenüber aber dennoch irgendwann ein. Ausgleich findet man noch am ehesten in der musikalischen Begleitung der fast 20 individuellen Stimmen, denn das am Bühnenrand angesiedelte Quartett aus Piano, Cello, Banjo und Percussion findet immer wieder neue Sounds in ihrem Jazz caribéen auftun. Wo es keine Freiheit für alle gibt, womöglich nie geben wird, bleibt doch zumindest die Musik.
Donnerstag, 22. Mai
Foto: neverleavetheclouds
Ein Reiz des Festivals ist, dass sich die nun wirklich überschaubar große Innenstadt förmlich in eine einzige Bühne zu verwandeln scheint. Auf dem Torgallmenningen-Platz, dem zentralen Festival-HQ, hält ein Orchester eine öffentliche Probe ab – man möchte und muss ja schließlich wissen, wie sich der Klang der Instrumente unter freiem Himmel entfaltet und anfühlt. Und bei der Fahrt mit der Bergbahn auf den Fløyen gleich am Fjord (ja, Bergens Geografie ist wahrlich spektakulär) ist schon mal eine Kabine für eine*n Sänger*in der Bergen Opera reserviert. Und was könnte erhebender (und norwegischer!) sein als „Solveigs Lied“ aus Edvard Griegs Peer Gynt Opus 23 zum gleichnamigen Schauspiel des großen Dramatikers und Nationaldichters Henrik Ibsen?
Am Abend geht es weiter mit einem Set aus drei Stücken, die der japanische Audio/Video-Artist RYOJI IKEDA fürs in Frankfurt beheimatete ENSEMBLE MODERN komponiert hat – eine Zusammenarbeit, die zu den namhaftesten gehören dürfte, die beim Bergen International Festival je stattgefunden haben. Wir sind enorm gespannt …
Foto: Wonge Bergmann / Festspillene i Bergen
… und nun begeistert vom Konzertabend zurück im Festival-Hotel ums Eck. Dabei hatte der Abend wenig vielversprechend begonnen. „MIRROR (one for two)“, an dem Ikeda zwischen 2020 und 2023 gearbeitet hat, ist als Clou inszeniert, die Partitur auf einem langen (langen!) schmalen Streifen Papier notiert. Zwei Streicher*innen begeben sich von den Enden aufeinander zu und schließlich wieder voneinander weg, wobei jede*r die Partitur von der eigenen Seite aus liest (hier kann man sich einen Ausschnitt ansehen). Das ist durchaus vergnüglich und für jemanden, der laut eigener Aussage keien formelle Ausbildung als Komponist genossen hat, aberwitzig beeindruckend – bleibt aber nicht über alle drei Pärchen hinweg spannend.
Erfreulicherweise wird es aber bald besser und schließlich, mit dem letzten Stück, schlicht großartig. „Prism“ wie „Reflection“ sind für Nonett geschrieben, wobei sich je zwei Geigen sowie eine Viola und ein Cello zu beiden Seiten des zentral platzierten Kontrabasses aufreihen. Klar, es geht um Symmetrien, doch anders als zu Beginn blitzen im formellen Spiel auch melodische Aspekte auf, die mehr und mehr die Überhand gewinnen und in den finalen Minuten von „Reflection“ förmlich in einen Rausch münden, der einem die Gänsehautschauer nur so über den Körper fließen lässt. Dass es dabei um Kontrapunkt und eine 7/8-Phasenverschebung geht, interessiert im Publikum dann schon längst niemanden mehr.
Freitag, 23. Mai
Foto: Solveig Jevanord / Festspillene i Bergen
… und da ist unser dritter Tag auch schon eingetütet. Zwei Performances am heutigen Abend haben wunderbar die Spannbreite illustriert, die das Bergen International Festival mit Freude und Vermögen abbildet. Der erste Teil war direkt eine Weltpremiere – die Uraufführung von Pinocchio im Det Vestnorske Teateret, einer Zusammenarbeit des Festivals mit der OSLO NYE TEATER-Compagnie aus der Hauptstadt. Zu Kommentaren zum Plot wollen wir uns nicht versteigen – die anderthalbstündige Inszenierung basiert dem Programmheft nach auf den originalen Geschichten von CARLO COLLODI –, doch die ungemein physikalische Darbietung war dennoch ein großes Vergnügen. Die Holz-Variante der Langnase wird von drei Schauspieler*innen gleichzeitig bewegt, während FERDINAND FALSEN HIIS‘ Darstellung des menschgewordenen Pinocchio einer zappelphilippischen Tour de Force gleichkommt. Wobei KAROLINE P. U. SCHAU als Zirkusdirektor dem kaum nachsteht und zudem noch mehr Stimmarbeit zu tun bekommt. Apropos Sound: Die neu komponierten Songs stammen von ANNE LILIA BERGE STRAND alias Norwegens Pop-Queen (und mittlerweile DJ) ANNIE!
Foto: Thor Brodreskift / Festspillene i Bergen
Eine ganz andere Nummer der Auftritt von EIVØR PÁLSDÓTTIR alias EIVØR im Peer Gynt-Saal in den Grieghallen. Der wuchtige Sound der Musikerin und Sängerin von den Färöern, die bereits seit mehr als 20 Jahren Alben veröffentlicht, ist zu ungleichen Teilen SIGUR RÓS, KATE BUSH, TYPE O NEGATIVE und Mittelalter-Folklore (Pálsdóttir war auch schon im Soundtrack der Netflix-Serie „The Last Kingdom“ vertreten) – vor allem in der Percussion und bisweilen im Gesang, den Pálsdóttir vom Powersopran jederzeit in gutturale Stoßchants kippen lassen kann. Was amüsanterweise an Schaus Pinocchio-Zirkusdirektor denken lässt. So schließt sich ein Kreis, wie das wohl nur auf diesem Festival möglich ist.
Samstag, 24. Mai
Foto: Øystein Haara / Festspillene i Bergen
Unser letzter Tag hier in Bergen beginnt mit einer Vorstellung im Studio Bergen, die eigentlich nur als Tortur zu verstehen ist – ein Geduldspiel, eine Willensprobe, ein Kraftakt allemal für die 14 Tänzer*innen von CARTE BLANCHE, die in „Cancel Bertha“ fast anderthalb Stunden fast gänzlich ohne klangliche Untermalung im Takt bleiben müssen. Es mag Raum für Spiel und Impro gegeben haben (oder auch nicht), dennoch bleibt vor allem der Eindruck quälender Strukturisierung und ewiger Wiederholung stehen. Bühnenhorror pur – und obendrein in der Familienvorstellung.
Am Abend geht’s weiter mit der zweiten Produktion von WILLIAM KENTRIDGE in den Grieghallen – einem Stop-Motion-Film, der zur Aufführung von Dmitri Dmitrijewitsch Schostakowitschs 10. Sinfonie gezeigt wird …
Foto: Stella Olivier (2022) / Festspillene i Bergen
… wobei man sagen muss, dass KENTRIDGEs Film, so bissig ironisch sein visueller Kommentar zur sozialismuskritischen Sinfonie doch Beiwerk bleibt zur mit teils gewaltiger Dynamik durchs BERGEN PHILHARMONIC ORCHESTRA (Leitung: CHRISTIAN BLEX) interpretierte viersätzige Opus magnum in E-Moll. Wie auch beim Opening ist die Wahl des Stückes im Lichte der weltgeschichtlichen Bewegungen dieser Tage unmissverständlich – dass der „Artist in Residence“ aber auch mit seinem zweiten Werk keine Uraufführung bietet („Oh To Believe In Another World“ wurde vom LUZERNER SINFONIEORCHESTER kommissioniert und hatte bereits 2022 Premiere), überrascht aber doch bei einem Festival, das ansonsten durchaus mit starken originalen Positionen zum Träumen wie zum Nachdenken anzuregen weiß. Was auch wunderbar als Schlusssatz zu unserer Reportage vom diesjährigen BERGEN INTERNATIONAL FESTIVAL funktioniert.
Homepage des Bergen International Festival
Foto: neverleavetheclouds