Foto: Mincultura
POPTRAVEL. Unter diesem Namen berichten wir in unregelmäßigen Abständen vermehrt von unterwegs: Porträts, Interviews, Konzert- und Festivalberichte im berühmten Blick über den Tellerrand. Und diesmal geht es richtig weit hinaus, weiter als je zuvor mit POPTRAVEL …
… und zwar nach Santa Marta im Norden von Kolumbien! Die Stadt an der Karibikküste des lateinamerikanischen Staates feiert dieser Tage 500-jähriges Jubiläum. In diesem Zusammenhang wird vor allem die kulturelle Pluralität der Region zelebriert – und mit ihr auch die Stimmen indigener sowie afrokolumbianischer Bevölkerungsgruppen.
Wir sind ab Montag dort unterwegs, wobei das Highlight unseres Programms das Konzert „Corazón del Mundo“ („Das Herz der Welt“) sein wird. Am Dienstagabend treten dann u.a. SYSTEMA SOLAR und GAITAGUA (beide aus Santa Marta) und BOMBA ESTÉREO (aus Bogotá) am Strand El Rodadero auf. Auch Formationen aus Kuba, Mexiko und VAE sind angekündigt. Derweil hat übrigens Vallenato-Pop-Rock-Legende und Santa-Marta-Lokalmatador CARLOS VIVES dieser Tage einen Song veröffentlicht, der ebenfalls das Jubiläum seiner Heimatstadt feiert. Neben vielen anderen daran beteiligt: BOMBA ESTÉREO. Ob sich da eine Überraschungsperformance am Dienstag ankündigt? Wir werden berichten …
… und dann kam alles anders. Und dann wieder anders. Ehrlich gesagt war die ganze Woche in Santa Marta eine einzige große Überraschung – abgesehen vom Wetter, dass so karibisch ist, wie man es sich nur vorstellen kann. Der Reihe nach – und einen Tag zurück, vor den Termin der Gedenkfeier …
Montag, 28. Juli
Carlos Vives | Foto: neverleavetheclouds
Wie sich herausstellte, war für diesen Tag ein gigantisches Solo-Konzert von CARLOS VIVES an der Playa de Cocos direkt neben dem Küstenstreifen der Altstadt von Santa Marta angekündigt. Ein separater Auftritt, der sich bewusst von der großen Gedenkfeier absetzt? Der Hintergrund: Noch vor einigen Monaten hatte VIVES, der mit Abstand bekannteste und international erfolgreichste Künstler der Stadt, die Dinge selbst in die Hand genommen und eine Kampagne zum Jubiläum lanciert – die jedoch wegen unzureichender bis unsichtbarer Repräsentation der sieben indigenen Völker der Region wie auch der afro-kolumbianischen Bevölkerung zurecht heftig in die Kritik geriet.
Das kolumbianische Ministerium der Kulturen, der Künste und des tradierten Erfahrungsschatzes (unsere Übersetzung), das nicht von ungefähr so heißt, nahm sich der Sache an, gestaltete die Kampagne neu und brachte eine Gedenkveranstaltung auf die Agenda, die ganz bewusst keine Feier sein will – schließlich haben die Menschen, die vor der Stadtgründung Santa Martas durch die Spanier vor 500 Jahren hier zu Hause waren und Jahrhunderte der Gewalt, Enteignung und Entrechtung erlebt haben, nichts zu feiern. So sehr das auch einleuchtet – Vives fühlte sich auf den Schlips getreten, und ein Kleinkrieg, dessen kulturelle Wirkungskraft so klein gar nicht ist, entbrannte, bis die Parteien komplett zerstritten waren und sich voneinander distanzierten.
Die geschätzt Zehntausenden von Menschen, die an diesem langen Abend an die Playa de Cocos gekommen sind, mag das Ganze nicht kaltgelassen haben (sofern sie davon wussten) – die Party, für die zudem nicht mal Eintritt zu zahlen war, wollten sie sich aber so oder so nicht entgehen lassen. Besser so: Vives fackelte ein Feuerwerk seiner größten Hits ab und brachte Gäst*innen wie die spanische Flamenco-Sängerin NIÑA PASTORI (für ein Duett des Vives-Gassenhauers „Santa Marta Tiene Tren“) und eine Reihe junger Künstler*innen auf die Bühne, um mit diesen den oben angesprochenen neuen Song „500“ zu interpretieren. Wir waren zu dem Zeitpunkt samt früher Anreise aus Bogotá bereits seit rund 20 Stunden wach und haben uns die zwei Party-Acts nach dem langen Vives-Auftritt entgehen lassen. Nicht dumm, denn: Der nächste Abend sollte noch deutlich länger, überraschender und – fantastischer werden …
Dienstag, 29. Juli
Der Beginn der Gedenkveranstaltung | Foto: neverleavetheclouds
Wir ringen noch nach Worten – bis wir sie gefunden haben, könnt ihr euch im Video oben schon mal den kompletten zeremoniellen Teil der Gedenkveranstaltung ansehen und euch selbst ein Bild machen …
… ja, was für ein glorreicher Abend. Schon am Nachmittag hatten sich die ersten Gäst*innen am Rodadero Beach jenseits des Tamacá Hotels eingefunden, Acts wie ALAN LOVER und GAITAGUA spielten tapfer gegen die irre Hitze an – immerhin hatten sie auf der Bühne, anders als das Publikum, ein bisschen Schatten. Als die GAITEROS DE PUEBLO SANTO gegen 17 Uhr onstage gingen, zeichnete sich der Sonnenuntergang zumindest langsam ab, und die in der Vergangenheit bereits für einen Latin Grammy nominierte kolumbianische Combo spielte den passenden Soundtrack dazu – gefolgt von ADRIANA LUCÍA aus dem unweiten Santa Cruz de Lorica, die ihren Vallenato mit satten Rockelementen ausschmückte und es so gewaltig krachen ließ.
Adriana Lucía | Foto: neverleavetheclouds
Wenige Minuten nach dem Ende ihres Auftritts war Lucía zurück, in neuem Gewand – und in neuer Funktion. Ihr kam die Einleitung zum zentralen Programmpunkt zu, in dem an die wendungs- und nicht zuletzt leidensreiche Geschichte Santa Martas erinnert werden sollte. Und das Konzept des Ministeriums, das sich wie beschrieben für einen Fokus auf die indigene Kultur starkgemacht hatte, ging voll auf: Eine knappe Stunde lang sorgte ein Team von Dutzenden von Musiker*innen, Tänzer*innen und Artist*innen für einen überwältigenden Rausch von Sounds und Farben, fantastischen Kostümen und Wow-Props wie einer gigantischen Marionette eines schwarzen Jungen (die Geschichte der Berührungspunkte von indigener Kultur und geflohenen Sklav*innen in der Region ist besonders berührend) oder Pferden – dem einzigen klaren, zugleich dennoch denkbar zurückgenommenen Verweis auf die Ankunft der Spanier.
Ein Feuerwerk über dem Karibischen Meer war schließlich der Schlusspunkt eines Aktes, der so ausdrücklicherweise eine Gedenkveranstaltung sein sollte und kein Fest – und der sich dann letztlich doch so festlich anfühlte. Die Präsentation war nichts Geringeres eine der Resilienz, des Stolzes und der Vielfalt der indigenen Bevölkerung der Region – und könnte und sollte zur Inspiration werden für all die anderen Städte in Lateinamerika, die in den nächsten Jahren und Jahrzehnten ihre Jubiläen feiern werden. Der Weg, den man in Santa Marta dafür gewählt hat, dieser und kein anderer, ist der richtige.
Fotos: Mincultura
Die Nacht war damit noch lange nicht vorbei, Combos wie HIJOS DE LA SIERRA, die Hip-Hopper KOMBILESA MI, das Reggae-Kollektiv SYSTEMA SOLAR und vor allem die großartigen BOMBA ESTÉREO um die aus Santa Marta stammende Frontfrau LILIANA SAUMET machten die Nacht zum Tag. Und einen besonderen Tusch gab es noch – als Saumet zur Überraschung aller CARLOS VIVES auf die Bühne holte, um gemeinsam den Jubiläumssong „500“ zu spielen. Man mochte Vives‘ Auftritt als Zeichen der Versöhnung sehen, vielleicht wollte er diese große Nacht auch nur einfach nicht allein zu Hause sitzen. Wie dem auch so: Keiner der involvierten Parteien dürfte das Arrangement ganz leicht gefallen sein, doch der Gewinner war das Publikum, das so noch einmal einen ganz besonderen Moment erleben durfte.
Bomba Estéreo | Foto: neverleavetheclouds
Die Reise wurde unterstützt durch ProColombia.