Das Grauen des Dorfes – 25 Jahre Harvester O.S.T.

1996: In der abflauenden Hochzeit des PC-Adventures tauchte ein Spiel auf, das ähnlich wie Mortal Kombat (1992) sich der Debatte stellte, ob denn Videospiel-Gewalt die Spieler gewalttätig mache. Während jedoch das primitive Fighting Game Mortal Kombat nur die Gewalt ins Absurde steigerte, ging Harvester weit darüber hinaus. Hier wurden die Ursachen und Potentiale von Gewalt ausgeleuchtet. Entsprechend wurde es 1997 ebenfalls indiziert. Nachdem die Indizierung von Mortal Kombat 2020 aufgehoben wurde, wird es Zeit, über dieses einzigartige Machwerk und seinen Synth-Score zu sprechen.

Da man das Spiel mit echten Schauspielern besetzte, hat man gleichzeitig ein B-Movie vor sich. Hier läuft die Hauptfigur Steve unter Gedächtnisverlust durch eine Szenerie, die wie die Karikatur einer ländlichen US-Gemeinde aus den 50ern wirkt. Doch hinter der biederen Fassade von Harvest lauern Abgründe: Die rote Angst geht um. Die Frauen werden zu naiven Hausfrauen von sexistischen Patriarchen erzogen und ihre Kinder sexuell ausgebeutet. Über die Homosexuellen wird gelästert und die Touristen werden zu Fleisch verarbeitet. Und Steve soll nun über gemeine Pranks zu einem geachteten Mitglied dieser Gemeinschaft werden – bzw. zu einem Massenmörder.

Die Titelmusik der das Dorf beherrschenden Loge „The Order of the Harvest Moon“ ist sowohl düster als auch episch angelegt und wird immer wieder variiert. „Charity“ und „Beyond“ arbeiten mit dramatischen Streichern, die den Spieler darauf hinweisen, dass jede Entscheidung tödlich für andere sein könnte. Die Verwirrung der Hauptfigur sowie des Spielers über die seltsamen Umstände drückt die E-Flöte zu Vogelzwitschern aus „Morning 2“ aus.

Der immer bizarrer werdende Plot erhielt einen sarkastischen Soundtrack. So werden etwa Comic-Musik und -Effekte im örtlichen Fernsehsender abgefahren, wo rassistische Filme über den Wilden Westen gedreht werden. Western-Held Range Ryder fragt: „Where would we all be right if the cowboys hadn’t gone west and butchered innocent people to steal their land?“ Gewalt sei nicht nur Entertainment, sondern Fundament der USA.

Im Spiel werden die Schrecken der blutbefleckten US-Geschichte dann aufgezählt: Das Wiegenlied der Gein Memorial School ist nicht ohne Grund beängstigend. Der Marsch der US-Armee („Military“) ist Dungeon Synth mit harten Trommeln und Pianotasten. Und selbst der Schrecken des Vietnamkriegs wird in einem „Temple“ durch Leichen im Dschungel markiert.

Nach den Unheil verkündenden Titeln „Anxiety“ und „Asylum 2“ ist „Mother“ das wohl härteste Stück, bei dem vor seltsamer Elektronik ekelhafte Fressgeräusche erklingen. Sie stammen von den Kindern einer Mutter, die ihre Mutterliebe eindeutig zu weit fasst.

Selbst eine Popkritik findet sich hier: „Mom N‘ Pop“ ist eine einlullende E-Mundharmonika-Melodie, die für die Verblödung der Dorffrauen steht. „Ballroom“ dagegen ist ein Cembalo-Stück, das eine andere Lebenswelt aufscheinen lässt. Mit „Rock“ findet sich zudem eine verblüffend komplexe Hommage an den 80er-Heavy Metal.

Wie erschreckend nah das Spiel als Kunstwerk der Realität kam, zeigte sich indes 2010, als Darsteller Kurt Stephen Kistler, der hier als Steve ein Kind vor einem Missbrauch-Täter rettet, wegen des Besitzes von Kinderpornografie festgenommen wurde. 2014 wurde das Game re-released. Wer jedoch einen Einblick in die damaligen Debatten bekommen möchte, der höre das Original von 1996.

 

Harvester O.S.T.
(DigiFX Interactive/Virgin Interactive)
VÖ: 31.08.96

Soundtrack auf Soundcloud

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