Foto: neverleavetheclouds
POPTRAVEL. Unter diesem Namen berichten wir in unregelmäßigen Abständen vermehrt von unterwegs: Porträts, Interviews, Konzert- und Festivalberichte im berühmten Blick über den Tellerrand. Diesmal geht es nach Bozen in Südtirol …
… wo sich HQ und etliche Bühnen des SÜDTIROL JAZZFESTIVAL ALTO ADIGE befinden. Das Festival, das erstmals 1982 stattfand (und auch schon mal „Jazz Summer“ und später „Jazz & Other“ hieß) läuft bereits seit vergangenem Freitag, wir schlagen am Mittwoch in Bozen auf und tickern dann bis zum Festivalende am Sonntag. Wer mag, kann sich bis dahin hier schon mal das komplette Programm ansehen …
Mittwoch, 2. Juli
… und da sind wir auch schon im zum Dahinschmelzen heißen Bozen. Da tut es fast ein bisschen weh, dass die erste Show, die wir uns heute ansehen werden, nicht gerade outdoor stattfindet, sondern: in einem kleinen Kino. Macht auch sein: Gezeigt wird das lange verschollen geglaubte Stummfilmdrama „Der Mandarin” (1918, Regie Fritz Freisler) samt Live-Soundtrack vom Genter Jazztrio DE BEREN GIEREN und US-Contemporary-Koryphäe (und Festival-Stammgast) DAN KINZELMAN. Wir sind gespannt …
… und müssen zunächst sehen, dass vom Trio DE BEREN GIEREN an diesem Abend nur zwei Mann am Start sind. FULCO OTTERVANGER fällt kurzfristig aus und mit ihm das zentrale melodische Potenzial im Kontrast zu Bass und Percussion. Heißt auch: Viel Arbeit für KINZELMAN, der sich wie die zwei Kollegen unmittelbar vor der Leinwand aufgebaut hat. Es ist angerichtet für eine intensive Auseinandersetzung, und intellektuell faszinierend ist die Kommunikation zwischen dem frühexpressionistisch schrillen Streifen und dem losen, mal raunenden, mal aufbrausenden Spiel der Musiker. Allein – und es mag vor allem der unglücklichen Kombination aus extremer Hitze und der in Sepia-Goldtöne getauchten Stummfilm-Restaurierung geschuldet sein – der Funke mag nicht so recht aufs Publikum überspringen, das Ganze bleibt ein wenig verkopft.
Ganz anders im Anschluss im Sudwerk der Brauerei Batzen ein paar Straßen weiter. In dem Kellerclub steigt das „Kabarila Jazz Ritual“, ein Mix aus Freestyle-Konzert und Tanz, in dem Bühne und Dancefloor, Performer und Publikum ineinander übergehen. (Mit dabei übrigens: DELPHINE JOUSSEIN, die morgen Abend in der Messe Bozen solo an der Querflöte auftritt.) Man könnte auch Rave dazu sagen, wäre der Vibe nicht gar so rauh und handgemacht. Auf fünf Stunden ist die Impro angelegt – das haben wir nicht ganz gepackt, da es morgen bereits früh losgeht zu einem Konzert am Berg …
Donnerstag, 3. Juli
Filippo Vignato | Foto: neverleavetheclouds
„Tatsächlich hatte das einen riesigen Impact“, erzählt DAN KINZELMAN im Auto auf dem Weg zur „Jazz & Hike Sound Excursion“ zur Seurasas-Hütte auf der gleichnamigen Alm. Er spricht vom Vorabend.
Wir haben erst am Morgen des Vortags davon erfahren. Fulco hatte einige Passagen fürs Piano geschrieben – diese haben wir dann als Ausgangspunkt genommen und uns so ein bisschen was zurechtgelegt. Dazwischen war aber vieles improvisiert und dabei auch stark von den Farben auf der Leinwand inspiriert. Das Ganze war auf alle Fälle sehr intensiv.
Was man von der Exkursion nicht unbedingt behaupten kann. Während der kurzen Wanderung auf die Hütte geben KINZELMAN (am Saxofon) und Posaunist FILIPPO VIGNATO an der Posaune ein kleines Intermezzo, an der Hütte soll es dann eigentlich mehr werden – doch der Regen schießt uns dazwischen. Trotzdem brechen die beiden ihr freies Spiel an den Blechblasinstrumenten nicht sofort ab, sondern bringen die Improvisation unter einem großen Tischschirm zu Ende – quasi auf Tuchfühlung mit etlichen Gästen, die den Aufstieg mitgemacht haben. Beim Abstieg kommt die Sonne zurück, und dann ist endlich Zeit. Dabei spazieren VIGNATO und KINZELMAN, der in einem anderen musikalischen Projekt mit den Auswirkungen von Bewegung auf Klangwellen spielt, über die Wiesen am Hang, klettern auch mal auf einen Baumstumpf oder einen kleinen Felsen. Doch der wahre Gewinn an diesem Nachmittag ist vielleicht weniger die Musik als der persönliche Austausch mit den Musikern, über Stunden hinweg.
Freitag, 4. Juli
Sylvain Rifflet | Foto: neverleavetheclouds
Unser längster und vollgepacktester Festivaltag beginnt bereits um 10 Uhr morgens – mit einer Fahrt mit der Rittner Seilbahn auf den gleichnamigen Berg. Rund 1000 Höhenmeter überwindet die Bahn mit dem zwölfminütigen Trip, entsprechend steil geht es zu (der höchste Punkt des Zugseils liegt dem Vernehmen nach rund hundert Meter über dem Boden).
Das gilt weniger für RONNY GRAUPE’S SZELEST. Das Trio spielt auf der Gartenwiese des Parkhotels Holzner neben einigen wenigen Eigenkompositionen vor allem Jazz-Standards (zum Beispiel „Stardust“) und das nur eben so progressiv, dass es noch gemütlich genug bleibt. So ist das Ganze am ehesten das, was sich viele wohl unter einem Jazzfestival vorstellen – aber eben auch der am wenigsten interessante Auftritt während unserer Zeit hier.
Rasch geht es danach mit dem Bus (die Regionalbahn macht Gleisreparatur, will meinen Sommerpause) ins benachbarte Meran – zu einem ähnlich angelegten und doch grundsätzlich anderen Konzert. Im Laubengarten des hübschen Boutiquehotels Ottmanngut treten Percussionist SIMON POPP und Sängerin ENJI als POEJI auf und kombinieren dabei enorm facettenreiches Drumming und chant-artige Vocals zwischen Raunen, schmerzvollem Schrei und, in der versöhnlichen Zugabe, melodischem Gesang, der ENJIs Wurzeln in der Mongolei offensichtlicher anklingen lässt. Das Konzert ist fordernd, gerade in der stillen Anfangsviertelstunde, findet aber schließlich zu sich und seinem Groove.
Zurück in Bozen, die Sonne ist bereits untergegangen, spielt sich – jetzt gerade! – Saxofonist SYLVAIN RIFFLET in einen Rausch. „We Want Stars“ heißt sein Programm mit BETTINA KEE (für den beeindrucken CV einmal hier entlang, auf Englisch) und NICOLAS FOX, und auch wenn der Nachthimmel über Bozen gerade scheinbar keine Sterne zu verschenken hat, ist der Gig ein einziges Highlight.
Samstag, 5. Juli
Antonio Dalle Nogare Stiftung | Foto: neverleavetheclouds
Nach dem bewegten Freitag haben wir es am Samstag ein weniger entspannter angehen lassen, uns für den abschließenden Abend aber ein besonderes Highlight zurechtgelegt: ein Doppelkonzert der Formationen FADE IN und THE SLEEP OF REASON PRODUCES MONSTERS in der Antonio Dalle Nogare Stiftung ein kleines Stück nördlich der Bozener Innenstadt den Berg hinauf. Spannend ist zunächst einmal die Bespielung der Stiftung, die sich der Förderung zeitgenössischer Kunst widmet. Während für FADE IN ein großer Ausstellungsraum zunächst leergeräumt und dann bestuhlt und mit Kissen ausgelegt wurde, hat man THE SLEEP … eine Bühne im Außenbereich aufgebaut.
Und das macht Sinn: Das Trio FADE IN arbeitet in ziselierten Minimal-Soundscapes, die sich an den äußersten Rändern der Jazzmusik bewegen. Ruhe und Aufmerksamkeit sind hier gefragt – während THE SLEEP wiederum auf maximale Beschallung setzen, ihr Auftritt eher einem noisigen Postrock-Gig gleicht. Weit schallt der herrliche, dreckige Krach des Vierers über den Bozner Talkessel hinweg – ein perfekter Schlusspunkt für ein facettenreiches (und im Übrigen fantastisch organisiertes) Festival. Ciao!
Hotels
Wir sind im Parkhotel Laurin im altstädtischen Zentrum von Bozen untergebracht. Das traditionsreiche, im Jugendstil errichtete Haus ist auch 114 Jahre nach seiner Gründung die erste Adresse in der Hotellerie der Stadt – nicht zuletzt dank der hauseigenen Gastronomie, zu der auch Dario Tornatores in einem Glashaus im großen Hotelgarten untergebrachtes Restaurant ConTamina zählt.
Eine tolle Alternative nur zwei Ecken weiter ist das Parkhotel Mondschein. 2022 im historischen Gebäude des ersten Bozener Gasthauses (aus dem 14. Jahrhundert!) eröffnet, begeistert es heute keineswegs nur mit Patina, sondern auch mit einer eigenen Pizzeria und dem wohl schönsten Pool der Stadt.
www.laurin.it | www.parkhotelmondschein.com
Gastronomie
Wo wir schon beim Thema essen sind: Darauf versteht man sich in Südtirol nun wirklich. Unsere liebsten Spots während dieses Trips waren das Restaurant im Schloss Kallmünz in Meran, das Meta mit seiner Terrasse in bester Lage am zentralen Waltherplatz – und der kultige Biergarten Batzen, in dessen Keller während des Festivals an fast jedem Abend Gigs steigen. Der Batzen ist eines der wenigen Lokale, die auch noch spät (spät!) warme Küche auf den Tisch bringen – und somit für Festivalgänger*innen ein wahrgewordener Traum.
www.kallmuenz.it | www.meta-bolzano.com | www.batzen.it
Die Reise wird unterstützt durch IDM Südtirol.