Tallinn Music Week 2022 – Der komplette Ticker

Mit einigem – freilich auch pandemiebedingtem – Abstand berichten wir in diesem Jahr im Rahmen von Poptravel wieder von der TALLINN MUSIC WEEK (TMW), dem größten Newcomer-Festival im nordisch-baltischen Raum. Nachdem sich die Veranstaltung in der Vergangenheit über zahlreiche Locations in der estnischen Hauptstadt ausgebreitet hatte, konzentrieren sich die Konzerte nun im ungebrochen coolen Telliskivi. Auf dem zentralen Loomelinnak-Platz steigt denn am Donnerstag, den 5. Mai, auch das Eröffnungskonzert von Producer IVAN DORN.

Dass diese Rolle einem Musiker aus der Ukraine zukommt, ist kein Zufall: Um ein Signal für die Unterstützung des Landes zu senden, zieht die TMW an ihrem letzten Tag (Samstag, 7. Mai) in die ostestnische Stadt Narva unweit der Grenze zu Russland. Im Line-up des Festivals finden sich insgesamt fünf Acts aus der Ukraine, dreien von ihnen stellt die TMW eine kostenlose „Sound Residency“ zur Verfügung. Die Studioräume sind für Recordings voll ausgestattet und sollen auch einen Platz zum Netzwerken schaffen.

Bis wir mit unserem Ticker vor Ort beginnen, geht es hier schon mal zum kompletten Programm …

Warm-Up + Opening (Donnerstag 5. Mai)

… und da sind wir nun also! :) Von Sonnenstrahlen in Tallinn begrüßt, aber ein bisschen zu sehr mit Backoffice-Quatsch beschäftigt, um es zum Opening Gig von IVAN DORN zu schaffen. In Telliskivi läuft gerade noch die Opening Reception – der offizielle Startschuss ist also gegeben, und auch in einigen über die Stadt verteilten Galerien ist der mittlerweile traditionelle TMW Arts-Teil unterwegs.

Zu den Highlights des heutigen Abendprogramms gehören ein Showcase-Minifestival von Warner Records in der Fotogalerie Fotografiska (unter anderem mit RAUL OJAMAA, RAHEL und den famos verkalauerten GRAM-OF-FUN), Indie und Pop in den Club-Bars Uus Laine und F-Hoone und – bis in die Puppen – die „Sveta Night“ in der Sveta Baar. Wir schauen, was der Abend bringt, und melden uns spätestens morgen früh mit den ersten Eindrücken …

Alles, was es braucht: Bühne im F-Hoone | Copyright: neverleavetheclouds

Der erste Abend

Am Eingangsbereich der außerhalb des Telliskivi-Hubs gelegenen Bar Uus Laine wird noch gebaut und gebastelt, wir begeben uns also ins Epizentrum und schauen als erstes im Restaurant F-Hoone vorbei. Jeder Tisch ist besetzt und bis auf Weiteres verplant, selbst auf den Vöner zum Mitnehmen muss man laut mittelfreundlicher Auskunft locker eine halbe Stunde warten. Viele Gründe, die Küche links liegen zu lassen und ha, linkerhand, in den Bühnenbereich des Etablissements abzubiegen. Hier lärmen die Finnen von LAKE JONS gerade am Rest ihres Sets – krachender Dream-Pop mit dunkler Welle. Cool.

Ein paar Schritte weiter in der Fotografiska-Galerie gibt es dann großes Pop-Kino aus Estland, zuerst von Singer-Songwriter-Superstar ANDREAS und danach von Powerpaket RAHEL, deren Musik mit aufgedrehter Live-Gitarre einiges an Kante gewinnt.

Schräger wird es drum herum: beim Viljandi Folk Music Festival im hinter einer schicken Bar versteckten Vaba Lava gleich nebenan etwa oder beim Fenno-ugrischen Abend im hippiehimmelhaften Erinevate Tubade Klubi (vierter Stock, Schuhe am Eingang abgeben, bitte), wo gerade KATARINA BARRUK zu hören ist, während in der gemütlichen Lounge Omis einfache, leckere Landgerichte für einen symbolischen Euro verkaufen.

Schon nach zwei Stunden ist deutlich: Der Wechsel zu den kurzen Wegen ist eine super Sache, und wer eine Viertelstunde auf einen Act gewartet hat (länger sind die Pausen meist nicht) und dann doch keinen Gefallen findet, der steht oder sitzt garantiert in fünf Minuten vor einer anderen Bühne.

Also schnell auf einen Abstecher zu Electronic-R&B-Darkpop-und-so-weiter-Phänomen MANNA in der Sveta Bar, ehe wir schließlich doch noch ins Uus Laine fallen. Die „Soda Pop“-Night ist gerade bei der Götheborgerin MANX angekommen, die poppige Electronica auf Socken tanzt, ehe beim Goth-Folk-Rave-Trio BUBBLEGUM EXPLOTION aus Riga noch ein paar Hüllen fallen. What?

Für zwanzig Minuten schauen wir noch bei der Experimental-Jazz-Pop-Combo ALFA COLLECTIVE im Philly Joe’s unter dem zugigen Freiheitsplatz von Tallinn vorbei, um uns mit Vibes zwischen Stereolab und Broadcast in den ersten Feierabend schicken zu lassen. Mehr morgen!

Rahel im Fotografiska | Copyright: neverleavetheclouds

Der zweite Abend

And still the orchestra plays! Nachdem wir am Vorabend so gut wie alle Locations durchgecheckt haben, dachten wir: Drehen wir den Spieß um und bleiben sitzen! Naja, zumindest für ein Weilchen.

Das Jahr für Jahr durch Estland wandernde Võnge-Festival hat mit dem ansonsten gern mal für schnöde Corporate Events vermieteten Roheline-Saal eine der größten Bühnen des Festivals bekommen und lässt die Muskeln spielen: In dem fantastischen Line-Up gibt es viele Sterne, neben ORBIT aus Deutschland so auch die BLIND SUNS aus dem französischen Angers. Das Duo erinnert dabei nicht nur in der Besetzung an die legendären RAVEONETTES, sondern auch und vor allem in den schnauzcoolen Rave-Pop-Tunes.

Als die beiden von der Bühne treten tut es zum ersten Mal ein bisschen weh, dass die Showcases auf der TMW zeitlich so arg knapp bemessen sind und auch keinen Spielraum lassen. Der zweite Tag ist noch dichter gebucht, und trotz der kurzen Wege hat man das Gefühl, das immer wieder großartige Booking beißt sich immer wieder selbst in den Allerwertesten.

Next up ist ALYONA ALYONA, einer der Acts aus der Ukraine, und natürlich geht in dem explosiven Set der Rapperin irgendwann die Fahne hoch. Das Publikum feiert den Moment aus voller Kehle, und für einen unheimlichen Moment irgendwo zwischen Stolz, Tapferkeit und Angst hat man das Gefühl, als sei man auch im direkten Nachbarstaat Russlands innerlich mit der Vorbereitung auf das Schlimmste befasst.

Über eine einzige schmale Treppe (Fluchtwegfanatiker können nur in Entsetzen geraten) hinunter geht es hinaus in die Nacht – auch wenn es in Estland dieser Tage schon arg spät dunkel wird. Auf der anderen Seite des Loomelinnak-Platzes geht das Kivi Paber Käärid kurios mit dem Platzmangel um: Die Backstage Area hat man einfach kurzerhand in den Wintergarten verlegt und bei diesem für besseren Durchzug auch die Fenster geöffnet. So muss man als Gast nicht in die proppenvolle Bar drängen, sondern über die Backstage, Bühne und Band aufs Publikum gucken. Erlebt man nicht aller Tage.

Auf der Bühne stehen gerade THE HOLY aus Helsinki, die Indierock mit großer Springsteen-Geste kombinieren – nicht so unsterblich elegant wie BLEACHERS zwar, aber unbedingt mitreißend. Boxenklettern und ein zweiter Drummer machen die Sache nur noch besser. Die Band ist festivalerfahren – und augenscheinlich mehr als bereit für den next step zum next big thing.

Einen haben wir aber noch, denn es lichtblitzgewittert uns aus dem Vaba Lava entgegen. Quasi zum finalen Tusch auf dem Tallinner Programm der TMW in diesem Jahr gehen WHATEVA beim Heimspiel noch einmal in die Vollen. Das Duo verquickt bombastische Synthie-Beats mit einem Gefühl für Popmelodien und große Build-Ups, und als der letzte Drop, nun ja, droppt, explodiert die Stimmung in der Crowd. Die Aftershow-Party in der riesigen Disco HALL im geschmeidigen Noblessner-Quartier können wir uns danach getrost klemmen und glücklich durch die Altstadt heimspazieren, die Nachts und ergo ohne Kreuzfahrttouristen sowieso am schönsten ist.

Welle für Welle: The Blind Suns | Copyright: neverleavetheclouds

www.tmw.ee

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