Zwischen Casting-Pop und Emo. 17 Jahre Tokio Hotel-Mania

Schau mal, wer wieder da ist!!! – Oh, nein. Auf dem Red Bull Soundclash 2022 am 19. Mai in Dortmund wurde unter anderem der über 15 Jahre alte Durchbruchs-Überhit von TOKIO HOTEL „Durch Den Monsun“ geremixt. Die HipHopperin BADMONZJAY, der Berliner TAKT32 und der  Hamburger BOZZA rappten ihre Parts drauf. Und als Krönung tauchten schließlich Tokio Hotel in Person auf, um ihren Song zu Ende zu spielen. Juhuu. Man konnte es kaum fassen. Jetzt, wo selbst Deutschrap nicht mehr gänzlich homophob ist (Badmómzjay beweist es), wickeln Tokio Hotel selbst die HipHopper um den Finger. Doch warum, fragt man sich, lösten sie 2005 eigentlich diese Begeisterung unter Teenies aus? Wieso gilt ihr erstes Album Schrei als Startschuss für die deutsche Emo-Szene?

Hört man das Album heute, fällt die damals laut gescholtene Kommerz-Poprock-Aufmachung auf. Trug Bassist GEORG LISTING auf dem Albumcover zwar ein Band-T-Shirt von THE CLASH, hatte es doch nichts mit Punk oder gar Emo zu tun. LP- und Bandkonzept waren vom Reißbrett eines bekannten Pop-Produzententeams.

Der damalige Erfolg muss rein thematisch gesucht werden. Denn Schrei transportierte klassische Nachwuchsthemen wie jugendliches Aufbegehren („Jung Und Nicht Mehr Jugendfrei“) oder die Trennung der Eltern („Gegen Meinen Willen“), was danach etwa auch die Knabenband APOLLO 3 thematisierten („Warum“). Der Song „Freunde Bleiben“ nahm die Stutenbissigkeit ihrer späteren Fans vorweg, wenn sie Tokio Hotel gegen jeden Hater verteidigten.

Die Androgynität des Sängers BILL KAULITZ schreckte die Mehrzahl der damaligen Rockhörer ab. Kommerzabwehr und Homophobie ließ Teenjungs und die Rockszene diese Band hassen. Die Mehrheit der Jugend wandte sich noch stärker dem Hiphop zu, während aber eine Minderheit den Emo für sich entdeckte.

Und noch mehr Fakeness: Nachdem Bill 2003 bei Star Search gescheitert war, grenzte sich die Band hier von Castingbands ab („Lass Uns Hier Raus“), nur um sich 2013 in die Jury von Deutschland Sucht Den Superstar zu setzen.

 

Dieser eine Song

Doch irgendetwas musste doch Emo sein an Tokio Hotel außer Bills irre Frisuren! Kleiner Tipp: Es war nicht „Durch Den Monsun“.

„Ich Bin Nicht Ich“ hatte kein Video wie das extrem erfolgreiche „Durch Den Monsun“ oder „Der Letzte Tag“, welches das Setting von U2s „Where The Streets Have No Name“ (1987) kopierte, das seinerseits nur eine Reinszenierung des letzten BEATLES-Konzerts von 1969 aus dem Film Let It Be war.

„Ich Bin Nicht Ich“ war auch keine Single, aber lyrischer Mittelpunkt von „Rette Mich“ und „Wenn Nichts Mehr Geht“ : Hat die Liebste Bill verlassen oder ist sie gar tot? Wünscht er sich die Fortführung der Beziehung oder gar die Wiedervereinigung im Jenseits?

Nach einem Elektro-Intro setzt hier der Poprock ein. Beides zeigt bereits die künftige Musikentwicklung der Band an. Doch der Emobezug ist die Depersonalisierung („Wie im Wahn seh ich mich immer mehr verschwinden“) und die Derealisierung („Draußen hängt der Himmel schief“) im Liebeskummer. Daraus folgt die Romeo-hafte Konsequenz: „Wenn du nicht bei mir bist, will ich nicht mehr sein!“

Der Song dürfte einer der ersten sein, der von der Band aufgenommen wurde. Bills Stimme ist hier noch gebrochen zwischen kindlicher Heulerei und pubertärem Jammer.

„Ich Bin Nicht Ich“ lässt sich als deutscher Rock-Herzschmerz-Titel am Ehesten mit „She’s Gone“ von THE TEENS vergleichen, einem Blues-Pop samt Frauenchor. Bill war zur Veröffentlichung 16, ROBERT BAUER, der Sänger der Teens, zu seinem Durchbruch 1978 gerade 14. Im Gegensatz zu Bill konnte er damals schon richtig singen. Auch die Teens waren eine Schülerband, die nach Schema F zu Mädchenstars aufgebaut wurden. Auch sie wurden über Nacht zu umkreischten Idolen. Sie nahmen zwar nie neben DIETER BOHLEN in der DSDS-Jury Platz, er schrieb aber persönlich Songs für sie (z.B. „New York“).

Lyrisch lag der Song „Ich Bin Nicht Ich“ übrigens sehr nah an SILBERMONDS „Durch Die Nacht“, das ein Jahr davor durch die Decke ging. Und er hatte mit „Kühl“ von PAULSREKORDER auch einen direkten Nacheiferer. So gesehen, waren Tokio Hotel nie etwas Ungewöhnliches im Deutschpop-Zirkus.

 

Tokio Hotel
Schrei
(Universal)
VÖ: 19.09.2005

www.tokiohotel.com

Foto © Tokio Hotel

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