2022 entwickelten MALTE HOYER (VERSENGOLD) und HANNES BRAUN (KISSIN‘ DYNAMITE) gemeinsam die Idee zu einem Kinder-Hörspiel. Es sollte in Richtung Fantasy-Roman wie etwa Narnia gehen und ihrem Genre des deutschsprachigen Mittelalter-Rocks eine Plattform geben. Der Plan lief für die bunten Hunde der Szene ausgezeichnet: Entstanden ist ein siebenstündiges Hörspiel mit Stephan Benson als Erzähler sowie ein 224seitiges Buch. An dem dazugehörigen 16-Track-Musikalbum haben 12 Bands mitgewirkt. Hört man es jedoch außerhalb des Hörspiel-Kontextes, bemerkt man, was für ein Etiketten-Schwindel hier zum Teil betrieben wird.
Das Titelstück startet vielversprechend mit Urwald-Flöte und -Trommeln, bis CHRIS HARMS, Sänger der Darkrocker LORD OF THE LOST, zu singen beginnt: „Du bist eine wahre Geschichte, die du lebst und du selbst erzählst.“ Es folgt ein Chor aus Rock- und Metal-Sängern, der Hoffnung und Vielfalt in einem Schlager verbreiten soll. Derartige Titel wie „Fallender Stern“ erinnern zum Einen an Kinder-Kitsch der 90er wie von PUR („Abenteuerland“). Gab es da nicht auch mal eine Zeichentrickserie namens Der Traumstein (1990-1995)? Zum Anderen erklingen warme Worte wie die von zivilen Bündnissen aus Verbänden, die sich immer pünktlich zu einer Bundestagswahl zusammenschließen, um danach wieder in Konkurrenz zueinander zu treten.
Noch seltsamer wird es im Musikvideo zu „Verlorene Träume“: JÖRG ROTH (SALTATIO MORTIS) tritt als Ritter „Alea der Bescheidene“ auf und scheint, mit seinem Beruf zu hadern: „Jedes Leben, das verlischt, nimmt tausend Träume mit ins Grab. Mit jedem Traum, der so vergeht, ein kleines Wunder mit ihm starb.“ Warum dann aber Krieger sein? Mit Kollegin ANNIE HURDY GURDY (ELUVEITIE) singt er: „Lass uns träumen von der Zeit, in der die Träume sicher sind, in der Mitgefühl und Zusammenhalt unser Leben hier bestimmt. Lass uns träumen von der Zeit, in der die Träume jedes Kind‘, eine Chance haben auf die Wirklichkeit. Lass uns träumen von der Zeit, die Frieden bringt.“ Das könnte ein DIE LINKE- oder BSW-Werbetitel sein. Geboten wird 08/15-Fantasy-Musik wie in dem diesjährigen Kino-Grauen Chantal im Märchenland. Später wird von TIM BERNARD (D’ARTAGNAN) dann doch ein echtes Kriegslied angestimmt („Von Anstand Und Moral“).
Kaum zu fassen ist das Arbeiterlied „Was Muss, Das Muss“, in dem HURLEY UND DIE PULVERAFFEN in Bergmannskluft zu Akkordeon davon singen, wie gerne sie ausgebeutet werden: „Ärmel hoch und halt dich ran! Denn Arbeit ist das halbe Leben und die andre Hälfte auch. Was kann es denn Schöneres geb’n als Maloche, Schweiß und Rauch?“ Die Rollen als Piraten, die sie sonst so gerne spielen, beruhen doch gerade auf der Verweigerung von Arbeit. Hier drücken sie dagegen die typisch deutsche Bejubelung des Arbeitszwanges aus.
Zum ersten Mal bekommt der Hörer überhaupt echte Mittelalter-Vibes, wenn Harms sich zur Orgel als Graf in „Licht Und Schatten“ vorstellt. Hier darf sogar einmal zart die Rockgitarre ausgepackt werden. Auch MICHAEL RHEIN (IN EXTREMO) zeigt in „Hunger Hab Ich“, wie sich die Rauheit des Mittelalter-Genres anzuhören hat. Auch „Drachen Machen Drachensachen“ von FIDDLER’S GREEN oder „Schimmer Geht Immer“ von ERIC FISH (SUBWAY TO SALLY) gehören auf die Haben-Seite. Der rockigste Titel ist „Brücken“ von TIM SCHMIDT (ASENBLUT).
Scheußlich dagegen: ANNA BRUNNER (EXIT EDEN, LEAGUE OF DISTORTION) mit „Aber Kadabrah“ – solch‘ billige Kinderlieder tauchen aktuell ständig in Disney-Filmen auf.
Uff, dieses Klassentreffen deutscher Folkrock-Bands ist zwiespältig: Sicher sind ihre Fans jetzt erwachsen und wollen ihren Kindern ihre musikalischen Lieblinge weiterreichen. Andererseits findet man sich hier in einer deutschen Biederkeit ein, die man früher selbst bekämpfte.
Dämmerland
Dämmerland
(Universal)
VÖ: 22.11.24