Der Nahostkonflikt im Lichte von Jesus Christ Superstar

Der durch die Terrororganisation Hamas begonnene bewaffnete Krieg zwischen Israel und Gaza hat seit Oktober 2023 eine ungeheure humanitäre Krise ausgelöst: Rund 2.000 Israelis starben und über 70.000 Palästinenser (davon rund 50.500 Zivilisten). Rund zwei Millionen Menschen wurden vertrieben und weltweit ist der Antisemitismus explodiert. Der Krieg geht weiter, obwohl es auf beiden Seiten Friedensdemonstrationen und Proteste gegen die jeweiligen Regierungen gibt. Und Ostern steht kurz bevor – seit der Antike Zeitraum für christlichen Antijudaismus.

Doch da gibt es das Musical Jesus Christ Superstar, das 1970 zunächst als Konzeptalbum von Tim Rice und Andrew Lloyd Webber veröffentlicht, ab 1971 aufgeführt und 1973 sogar ins Kino adaptiert wurde. Es wirkt wie ein Spiegelbild des jeweiligen Zeitgeistes und kommt dieses Jahr im September/Oktober auch wieder nach Berlin in die Komische Oper.
Dieses Rockevent schaffte es in den 70ern den christlichen Antijudaismus zu bekämpfen, in dem es die Passionsberichte der Evangelien historisch besprach und menschlich uminterpretierte. Verfällt es jetzt, da große Teile der Kulturszene rein pro-palästinensisch agieren, dem islamischen Antijudaismus und israel-feindlichen Antisemitismus?

Die revolutionärste Szene des Meisterwerks von 1973 zeigt einen Dialog zwischen Jesus von Nazareth (TED NEELEY) und seinem Jünger Simon (LARRY MARSHALL). Letzterer war ein Zelot, eine Art jüdischer Nationalist, der die römische Besatzung bekämpfte. Er versucht hier entsprechend Jesus von nationaler Propaganda zu überzeugen: „There must be over 50,000 – screaming love and more for you and every one of 50,000 would do whatever you asked them to!“ Der Versuchung nach Macht hatte Jesus laut Bibel bereits durch den Teufel in der Wüste zu widerstehen. „Keep them yelling their devotion, but add a touch of hate at Rome!“ Wie dieses Bisschen Hass sich anhören könnte, hat er schon vorgeführt: „The filth from Rome who rape our country and who’ve terrorized our people for so long!“ Marshalls Performance ist in seiner Leidenschaft geradezu wahnsinnig. Sie könnte heutzutage sowohl gegen die grausamen Terrorakte der Hamas als auch den maßlosen Krieg Israels gegen den Gaza-Streifen ins kulturelle Feld geführt werden.

Jesus genießt im Film von 1973 die Verehrung durch seine Jünger, die hier in Fanatismus und Nationalismus kippt. Er widerspricht jedoch am Ende Simon, dass er eben kein nationaler Revolutionär, kein irdischer Messias sei. Irdische Macht interessiere ihn nicht: „Neither you, Simon, nor the 50,000, nor the Romans, nor the Jews, nor Judas, nor the twelve, nor the priests, nor the scribes, nor doomed Jerusalem itself understand what power is, understand what glory is, understand at all.“ („Poor Jerusalem“)

Spannend ist auch das Setting: In einer von den Römer bewachten Säulenlandschaft tanzen und springen die Jünger Jesu in zeitgenössischer Kleidung ins Bild. Sie sehen aus wie Hippies und Jesus-People. Simon selbst könnte mit Bart und angedeuteten Dreadlocks fast als Rastafari durchgehen. Die Szene wird von ferne von Judas (ebenfalls Zelot, gespielt von CARL ANDERSON) beobachtet, der sichtlich entsetzt ist, wie Jesus sich vor den Römern als nationaler Held feiern lässt und damit die ganze Bewegung in Gefahr bringt. Er spürt, dass er keinen Einfluss mehr auf seinen alten Freund hat.

Die Kritik an religiösem Fundamentalismus, der leicht für nationale Propaganda ausgenutzt werden kann, wurde in der Bühnenversion von 2000 sogar noch verstärkt. Sie wurde für das US-Fernsehen von Nick Havinga und John Doyle aufgezeichnet. Statt Hippie-mäßig zu tanzen, greifen im Laufe der Szene die Jünger Jesu nach Maschinengewehren, um mit Waffengewalt „ihr Land“ zurückzuerobern. Sie erinnern damit frappierend an die jährlichen al-Quds-Tags-Proteste, die seit 1979 weltweit von islamischen Fundamentalisten durchgeführt werden, um gegen die israelische Besetzung von Teilen Jerusalems und gegen die Existenz Israels an sich zu demonstrieren. Schon die Jünger Jesu hatten die jährlichen Feiern zum Passahfest genutzt, um Jesus als Gottkönig (Messias) in Jerusalem einzuführen. An diesem Tag fanden stetig Proteste gegen die römische Besatzung statt.

Simon (Tony Vincent) ist wie ein 90er-Jahre-Boyband-Mitglied aufgemacht. Er singt auch poppig, wenn er diabolisch Jesus (Glenn Carter) und die Jünger zum Krieg aufruft. Er schert sich kaum darum, ob ihm Jesus überhaupt zuhört, der sich zusammen mit Judas (Jérôme Pradon) angewidert abwendet.

Bedenklich wurde dann die Bühnenversion von 2012, die während der UK Live Arena Tour verfilmt wurde. Der Chor der Jünger wird noch durch Einblendungen auf einer großen Leinwand unterstützt. Die Tänzer wirken wie die Occupy-Bewegung von 2011, in deren Reihen bereits antisemitische Verschwörungsideologie aufkam. Hier ist nicht der zur Gewalt verführende Simon die problematische Figur sondern der kritische Judas, der von Tim Minchin gespielt wird, der seinerseits der atheistisch-fundamentalistischen Brights-Bewegung angehört. Er trägt ebenfalls Dreadlocks sowie die Kufiya, das Halstuch, das seit den 60ern Symbol für den bewaffneten Kampf der Palästinenser gegen den Staat Israel ist. Was für die Regie vielleicht als Taschenspielertrick gilt, deutet die Handlung heute geradezu um: Judäa = Palästina, Rom = Israel. Die Figur, die jahrtausendelang das antisemitische Klischee vom jüdischen Verräter beflügelte, wird hier zum heutigen palästinensischen Rebell. So wollte wohl der historische Judas den historischen Jesus schließlich zum nationalen Aufstand zwingen, indem er ihn verriet.

In der letztjährigen Broadwayversion von Jesus Christ Superstar wurde diese gefährliche Umdeutung glücklicherweise zurückgenommen. Hier spielte übrigens R’n’B-Popstar JOHN LEGEND Jesus und König Herodes wurde von Altrocker ALICE COOPER verkörpert. Sie zollten dem bedeutsamen Rockspektakel Respekt. Es ist dazu da, Fundamentalismus zu kritisieren, nicht ihn zu unterstützen.

 

Tim Rice/Andrew Lloyd Webber
Jesus Christ Superstar
(Decca/MCA/Decca Broadway)
VÖ: 16.10.1970

Jesus Christ Superstar
20.09.-09.10.2025
Komische Oper Berlin (@Schillertheater, Bismarckstraße 110, 10625 Berlin)

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