Ethel Cain – Preacher’s Daughter

Man sagt, nicht das Glück sondern das Leid gebiert die Kunst. Und so vergeht auch die Kunst, wenn sich das Glück einstellt. Wem LANA DEL REY inzwischen zu vorhersehbar geworden ist, sollte sich in eines der wohl cineastischsten Werke des Jahres 2022 stürzen. Mit ETHEL CAIN tritt eine weitere Kunstfigur auf den Plan, die Sadcore einen neuen Dreh verleiht: Statt sich in der Nostalgie für die untergegangene Glorie der USA zu baden, wird hier die Pervertierung all ihrer Symbole ausbuchstabiert.

HAYDEN SILAS ANHEDÖNIA wuchs in Florida auf. Sie ist jung, weiblich, trans, bi, autistisch – fast alles auf einmal, was Postmoderne als „nicht-privilegiert“ „empowern“ wollen. Doch statt derlei systemische Erwägungen auszuwälzen, bleibt sie als Ethel Cain ganz individuell. Das Konzeptalbum Preacher’s Daughter spricht über den Horror des geistlichen und sexuellen Missbrauchs. Ihr Vater war Diakon in einer Baptistischen Gemeinde und steckte sie dort schon früh in den Chor. Hier entwickelte sich ein Gesangs- und Songschreibtalent. Nach drei Ethereal-EPs nun das Debütalbum – unglaublich, aber wahr: Das vorliegende Drama stammt fast allein aus ihren Händen.

Schon das Intro beschreibt die komplizierte Beziehung zu ihrem Vater. Der traurige Slowcore löst sich in echten Rock auf. Es folgt mit „American Teenager“ ein Amirocksong, der offenbar den aktuellen Status eines emanzipierten Menschen darstellt. Einsamkeit ist der Preis dafür. Die reale Cain ist sicherlich nicht das geworden, was sie sich als Teenager erträumte, doch sie ist noch einmal davon gekommen. Die fiktive Cain nicht.

Schon ist die fast zufriedene Stimmung verflogen. Das achtminütige „A House In Nebraska“ besteht aus harten Klavierschlägen, zu denen sich Cain nach der ersten und einzigen Liebe verzehrt, die für immer von ihr gegangen ist. Auch dieser Track findet seinen Höhepunkt in einem Stadionrocksolo. Hier wird der „männliche“ Rock also im Vorbeigehen angeeignet, statt wie etwa A FINE FRENZY („Almost Lover“) bei weiblichem Schmachten stehenzubleiben.

„Western Nights“ aus Piano-Slowcore und auch der lange Countrypop „Thoroughfare“ erzählen leidvoll von Versuchen neuer Beziehungen, in die sie sich auf der Flucht vor der familiären Vergangenheit stürzte. Während del Rey gelangweilt von alten Liebschaften schwärmte, ist hier kaum mehr als betrogene Hoffnung zu spüren. Und tatsächlich landen ja viele Missbrauchsopfer („Family Tree“) in der Prostitution („Gibson Girl“). Der einzige Stolz Prostituierter bleibt zu verstehen, dass alle Freier, ja alle Männer, gleich sind, wie schon TINA TURNER feststellte („Private Dancer“).

Wie die sexualisierte Gewalt in der väterlichen Liebe begann und nicht enden wollte, beschreibt sie in „Hard Times“ an der Akustikgitarre und man fragt sich, womit dieses offensichtliche Schwein dieses wunderschöne Lied verdient hat. Kein Hass, nur noch elende Trauer entfaltet sich: „I’m tired of you, still tied to me.“ Im vergangenen Jahr berichtete BILLIE EILISH, wie ein Groomer sie innerhalb eines Jahres zugrunde richtete („Your Power“). Die ekelhafte Verklebung von Unschuld und Schuld im Opfer ist die psychische Erkenntnis, doch nur das untote Sexobjekt eines anderen zu sein. Entsprechend endet Ethel als Leiche in der Gefriertruhe eines Kannibalen („Strangers“).

Nachdem der Amirock seinen befreienden Habitus und der US-Patriotismus seinen Heroismus verloren hat, wird auch das Christentum innerlich zerstört: Ethel wird grausam mit Doom exorziert („Ptolemaea“) und mit Ambient sich selbst überlassen („August Underground“ und „Televangelism“). Bis heute glauben Rechtsevangelikale ja mit Gebeten und Gehirnwäsche jungen Menschen Homosexualität und andere angebliche Besessenheit austreiben zu können. Ein letztes Mal nimmt Ethel für die Ballade „Sun Bleached Flies“ am Kirchenklavier Platz. Es ist die Sehnsucht nach der alten Heimat, in die sie nicht mehr zurückkann: „God loves you, but not enough to save you.“

Das del Rey-ähnliche Stimmvolumen und die beeindruckende Produktion wirkt mitunter überfordernd für den Hörer. Anstrengend und deprimierend, überraschend und inspirierend ist dieser amerikanische Albtraum. Man wünscht der aufstrebenden Sängerin eine glücklichere Zukunft. Doch vielleicht kann sie vorher noch ein paar solcher Songs schreiben.

 

Ethel Cain
Preacher’s Daughter
(Daughters of Cain/AWAL)
VÖ: 12.05.2022

www.daughtersofcain.com

Live

01.12.22, Berlin, Silent Green

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