Es gibt Musikalben, die sollten aus ethischen Gründen nicht existieren – Republik Der Strolche (1995) etwa von der Nazi-Band LANDSER, das Soundtrack für rassistische Morde war. Und dann gibt es Alben, die vor 10 Jahren noch gar nicht produziert werden konnten und die als musikalische Revolution, die bisherigen Konventionen von Musik in Frage stellen. Proto von HOLLY HERNDON ist so eines. Es ist ein künstlerisches Experiment – das erste Album aus Künstlicher Intelligenz (KI)-Produktion in Deutschland.
Die US-Komponistin Herndon ist inzwischen nach Berlin gezogen und arbeitete in ihren bisherigen Alben Car (2011), Movement (2012) und Platform (2015) bereits mit Elektronika. Seit Platform hat sie sich mit Medienkünstler MAT DRYHURST zusammengetan und mit ihm die KI Spawn entwickelt. Diese wurde über ein halbes Jahr mit Herndons Vocals gefüttert, um diese selbst artikulieren zu können. Es sind also keine Vocal- oder Sample-Remixe sprich Kopien, sondern „eigene“ Vocals, die dann auf Proto gruselig authentisch erklingen. Wie konnte es soweit kommen?
Wer der postmodernen Popmusik (Nu-Jazz, Post-Rock, Elektro/HipHop) überdrüssig geworden ist, hier die gute Nachricht: Auch ihre Zeit geht bereits zu Ende, denn die menschliche Involvierung in die Musikproduktion könnte sich im 21. Jahrhundert auflösen. So rechnen Kulturwissenschaftler nach der sogenannten Postmoderne (70er bis heute) bereits mit dem Post-Anthropozän, also einem Kulturzeitalter, das eher von Maschinen als von Menschen gestaltet wird. Aber der Reihe nach: Zunächst läuten die neudeutschen Klassikkomponisten im 19. Jahrhundert die Neuzeit ein. Mit dem Jazz der 1930er, spätestens aber mit BILL HALEY und dem Rock’n’Roll lässt sich ab „Rock Around The Clock“ (1954) von moderner Popmusik sprechen.
Doch schon 1957 lassen die Komponisten Lejaren Hiller und Leonard Isaacson zum ersten Mal einen Computer ein Musikstück („Die Illiac Suite“ bzw. „Streichquartett Nr. 4“) generieren. Dann erfolgt 1973 die Wende zum postmodern-elektronischen Pop durch KRAFTWERK und dem Album Autobahn. Mitte der 1980er tritt dann in der Italo Disko mit DEN HARROW bereits ein Dressman auf, der nur seine Lippen zum Playback anderer Sänger bewegt. Ihm folgt etwa das Playback-Duo MILLI VANILLI.
Im Laufe der Jahrzehnte werden durch die Synthies aber sämtliche anderen Instrumente und Geräusche in der Musikindustrie digitalisiert. 2018 erscheint mit I am AI von US-Sängerin TARYN SOUTHERN, das erste komplett von einer KI produzierte Album überhaupt. Seitdem etablieren sich Programme wie Amper oder Flow Machines, die versprechen, kein menschliches Dazutun mehr zu benötigen.
Und wie klingt diese Revolution? „Birth“ ist eine Übersteuerung, aus der sich allmählich Vocals schälen. Die Computerstimme wird zu einer menschlich anmutenden Stimme. „Alienation“ ähnelt dem spacigen Elektro-Pop von GRIMES. Überirdische Vocals treffen auf Stimmchöre und Elektrobeats.
Um Spawn menschliche Möglichkeiten zu geben, fanden sogenannte Live-Trainings statt, etwa klarer Gesang zweier Frauen („Canaan“) oder ein großer Chor in „Evening Shades“. Herndon hatte sich bereits bei den Vorgängerplatten von Ethno-Folk und Weltmusik inspirieren lassen, um ihrem Elektro eine Art Erdung zu geben.
Hört man diesen Gesang jetzt, glaubt man kaum, einem Computer zu lauschen. Wurden in den vergangenen Jahren gerne im Synthie-Bereich Chöre gefakt, ist hier mehr möglich. „Eternal“ klingt nach afrikanischen Stammesgesängen, Plastik-Pop und Dance. Der Song bleibt zwar Kunstwerk von Herndon, das sie geschrieben hat, doch der Computer hat ihre Stimme übernommen. Dieses Outsourcing nun als Kooperation von Mensch und Maschine zu bezeichnen, ist noch etwas abwegig. In wieweit sie das Programm machen ließ, ist ihr Geheimnis. „Crawler“ ist allerdings ein Chaos aus Stimm-Kollagen und Klängen, die tatsächlich menschlich ungeplant wirken.
Dieser neue Avantgarde-Pop versucht, irgendwo einen Punkt zu machen. „Extreme Love“ featured ein Mädchen, das von einer Beziehung zwischen Menschen und Aliens erzählt. „Frontier“ schließt als Chorgesang an amerikanischen Folk und Gospel an. Und die schwarzfeministische Künstlerin Martine Syms ist in „Bridge“ zu hören.
„Fear, Uncertainty, Doubt“ ist dann viel mehr artifiziell als etwa ein DAFT PUNK-Song wie „Within“. Kunst-Vocal wird hier Elektro-Flirren und dieses wird wieder Kunst-Vocal. Das ist faszinierend, doch noch verstörender ist „Godmother“, ein von DJane JLIN inspiriertes Vocals-Experiment.
Aus dem vorliegenden Album Proto könnten also wieder ethisch fragliche Alben folgen, nämlich solche, bei denen die ursprünglichen Träger einer Stimme nicht um ihre Zustimmung gefragt werden. So wie Deepfake-Apps Gesichter in Fotos morphen, wird hier eine Stimme einem Körper entrissen und einem Programm ausgeliefert. Diese Revolution der Maschinen verlangt Beobachtung.
Holly Herndon
Proto
(4AD)
VÖ: 10.05.2019