Es ist eine Herzensangelegenheit.
Es ist der Tag der deutschen Einheit, Herbstblätter bedecken den Asphalt. Entlang prächtiger Bauten führt vorbei an einem urigen, „Das Leben, ein ewiges Rätsel / Der Tod, für immer ein Geheimnis“ proklamierenden Friedhof der Hochbucher Weg geradewegs zu auf einen Hügel, an dessen Spitze eine beschauliche Villa steht mit der Hausnummer 45. Ein älterer Herr erblickt davor meine bescheidene Wenigkeit stehen und wendet sich an mich mit den Worten: „Jaja, hier lebte einst die Effi Briest.“ Persönlich hätte er besagte Dame nie kennengelernt; trotz schütterem Haar und Falten, in denen ein langes Leben ruht, ist der zeitliche Unterschied dafür zu groß. Doch die längst verschiedene Nachbarin hätte das Fräulein noch gekannt, als es 1918 von Berlin nach Lindau am Bodensee gezogen sei, wo sie bis zu ihrem Tode verblieb. Einen eigenen Kopf hätte sie schon immer gehabt und verrückt sei sie allemal gewesen; ob positiv oder negativ, bleibt das Väterlein unentschlossen. Unvermittelterweise bemerkt er, dass die Zeiten anno dazumal halt anders gewesen wären und man sich nicht so einfach hätte trennen können. „Sie wollte die Scheidung einreichen“, spricht er zu mir und doch wie zu sich selbst; ein weites Feld, wie Theodor Fontane sagen würde.
Es ist der 03. Oktober, gleichermaßen Hochzeits- wie Schicksalstag im Leben der Romanfigur Effi Briest. Auf Drängen der Mutter hin vermählt sich die 17-Jährige mit dem 38-jährigen Geert von Innstetten, einem Mann von Disziplin, Ordnung und Ehrenkodex, immerzu auf Karriere und gesellschaftliches Ansehen bedacht. Effi vereinsamt an seiner Seite, fehlende Huldigungen, Anregungen und kleine Aufmerksamkeiten treiben den Schön- und Freigeist schließlich in eine Affaire mit dem 44-jährigen Major von Crampas, der Effi bietet, wonach sich ihr Naturell sehnt: Zerstreuung, Abwechslung, Leichtsinn. Als das Ehepaar auf Innstettens Beförderung hin von Kessin nach Berlin übersiedelt, beendet Effi die Affaire. Sechs Jahre später fällt Innstetten jedoch durch einen unglückseligen Zufall der eindeutige Briefwechsel zwischen Effi und ihrem Liebhaber in die Hände und Innstetten sieht sich, entehrt und gekränkt, gezwungen zu handeln: Er fordert Crampas zum Pistolenduell heraus, wobei Crampas die todbringende Kugel trifft. Anschließend lässt sich Innstetten von Effi scheiden und entzieht ihr das Sorgerecht für die gemeinsame Tochter Annie. Nach ihrer Rückkehr ins Elternhaus in Hohen-Cremmen verstirbt Effi Briest dort als von der Gesellschaft verstoßen-verachtete Ehebrecherin im Alter von 29 Jahren. In einem Brief, datiert 18. Oktober 1895, schreibt Fontane: „Das ist nun also Effi. Schenken Sie ihr die Liebe, die sie menschlich so sehr verdient.“
Es ist die Person und Geschichte der Elisabeth von Plotho, nach der Fontane „Effi Briest“ konzipiert hat. Beruhend auf dem Ehebruchskandal von 1886, bildet diese Angelegenheit um „Else“ von Plotho samt dem folgenschweren Pistolenduell zwischen Ehemann Armand Léon von Ardenne und Liebhaber Emil Hartwich die Grundlage des Romans. Doch im Gegensatz zur „Effi“ stirbt „Else“ nicht an Einsamkeit und gebrochenem Herzen, sondern bestreitet unentwegt ihr Leben. Selbst eine erneute Annäherung zwischen ihr und den beiden Kindern findet statt, ehe sie im hohen Alter von 98 Jahren aus dem Leben scheidet. „Die ganze Geschichte ist eine Ehebruchgeschichte wie hundert andre mehr und hätte, als mir Frau von Lessing davon erzählte, weiter keinen Eindruck auf mich gemacht, wenn nicht die Szene bez. die Worte: »Effi, komm« darin vorgekommen wären. Der Zuruf machte solchen Eindruck auf mich, daß aus dieser Szene die ganze lange Geschichte entstanden ist. An dieser einen Szene können auch Baron A. und die Dame erkennen, daß ihre Geschichte den Stoff gab“, schreibt Fontane am 21. Februar 1896 an Publizist und Romancier Friedrich Spielhagen, welcher den gesellschaftlichen Skandal zeitgleich und ohne jedwede Kenntnis von Fontanes Ausgestaltung der Thematik in seinem Roman „Zum Zeitvertreib“ (1896) verarbeitete.
Es ist der Drang nach Zerstreuung im Strom des Lebens, den die Protagonistinnen Effi Briest – oder im Falle Spielhagens: Klotilde, Madame Bovary von Gustave Flaubert und Anna Karenina von Leo Tolstoi (in entferntem Sinne auch Nora oder ein Puppenheim von Henrik Ibsen) empfinden und dadurch zum Äußersten getrieben werden. Indem sie den Versuch wagen, sich aus ihrem Korsett von Zwängen zu befreien, um Raum in der Seele zu schaffen und entfalten zu können, verstricken sich die Titelheldinnen erst recht im ausweglosen Getriebe der Gesellschaft. Als 1895 „Effi Briest“ in Buchform erscheint, einer durch strenge Konventionen geregelten Zeit unter Bismarck, ist der Autor bereits 75 Jahre alt. Als hätte sich Theodor Fontane Zeit seines Lebens für diesen einen Roman warmgeschrieben, fließen darin schriftstellerische Stilistik, Weltanschauung & Gesellschaftskritik formvollendet zusammen. Auszug aus einem Brief Fontanes: „Die größte aller Revolutionen würde es sein, wenn die Welt übereinkäme, an Stelle der alten, nur scheinbar prosaischen Ordnungsmächte die freie Herzensbestimmung zu setzen. Das wäre der Anfang vom Ende. Denn so groß und stark das menschliche Herz ist, eins ist noch größer: seine Gebrechlichkeit und seine wetterwendische Schwäche.“
Es ist das feine kompositorische Element der Motivik und Symbolik, dessen sich der Schriftsteller in diesem Werk insbesondere bedient und welches unverzichtbar ist für die Qualität und Geschlossenheit der Handlung. Innere Zusammenhänge herstellend, Geschehen an- bzw. vorausdeutend und psychologische Prozesse der Figuren beleuchtend, lässt sich aus ihren Verweisen ein gehaltvolles Netz motivischer und symbolischer Fäden entspinnen. Wie die Motive (Duellwesen, Spuk, »Effi, komm«) im Verlaufe des Romans an symbolischer Bedeutung gewinnen, erfahren die Symbole (beispielsweise der Chinese als Angstapparat aus Kalkül ist laut Fontane „Drehpunkt für die ganze Geschichte“) an leitmotivischer Bedeutung. Da ihre Grenzen im Laufe des Romans miteinander verschwimmen und fließend ineinander übergehen, ergeben sie zusammen ein Ganzes, das mehr ist als die Summe seiner symbolischen und motivischen Anteile: „Einmal trat sie spät abends vor den Spiegel in ihrer Schlafstube; die Lichter und Schatten flogen hin und her und im selben Augenblick war es ihr, als sähe ihr wer über die Schulter. Aber sie besann sich rasch. „Ich weiß schon, was es ist; es war nicht der“, und sie wies mit dem Finger nach dem Spukzimmer oben. „Es war was anderes… mein Gewissen… Effi, du bist verloren.“ Es ging aber doch weiter so, die Kugel war im Rollen und was an einem Tage geschah, machte das Tun des andern zur Notwendigkeit.“