Interview mit SELIG

Vor 20 Jahren kam die erste SELIG-Platte heraus. Seitdem ging es für die Hamburger Rockband viel auf und ab. Genau im 20. Jahr ihrer gemeinsamen Geschichte veröffentlichen SELIG die Complitation Die Besten 1994-2014 mit 29 Neuaufnahmen quer durch alle bisherigen Veröffentlichungen. Nun ja, fast alle. Wir haben mit der Band über den vereinigenden Charakter der Arbeiten gesprochen, übe Reifungsprozesse und Emotionen im Rückblick auf den früheren Medienrummel und die Reunion.

20 Jahre, zwei Jahrzehnte, 73000 Tage – wie fühlt sich das an, von so einer langen Zeit zu sprechen? Kommt man sich da mittlerweile wie ein Dinosaurier im Business vor?

CHRISTIAN: Es fühlt sich ganz anders an. Da war gerade so eine totale Begeisterung beim Aufnehmen. Das ist irgendwie alles neu – gerade weil wir die alten Stücke im neuen Gewand aufgenommen haben. Das war wieder ein bisschen wie bei der ersten Platte, weil wir so euphorisch waren. Wir sind dann alle total gespannt zum Studio gefahren.

Fühlt sich die ursprünglichen Version eurer Neuaufnahmen noch wie Titel von einem selber an? Die neue Platte ist schließlich eine komplette Überarbeitung. Dafür muss es ja Gründe gegeben haben.

JAN: Mein Gesang auf den alten Alben finde ich immer sehr… überexpressiv! (lacht) Sehr viel Drama.

CHRISTIAN: Es kam erst der Gedanke einer Best-of auf. Ich finde diese Best-ofs aber immer wahnsinnig langweilig. Kannste dir auch auf iTunes selber zusammenstellen. Wir haben letztes Jahr mit dem Babelsberger Orchester in Potsdam ein gemeinsames Konzert gespielt. Das war ein schöner Abend, an dem alle Stücke mal anders beleuchtet wurden. Am nächsten Tag haben wir gesagt: Ach komm, dann lasst uns das doch irgendwie anders machen.

Was genau habt ihr dabei mit den Songs veranstaltet?

JAN: (lacht) Das kann ich dir genau sagen! [Holt sein Notizbuch hervor, blättert und liest vor] Wir haben den Kern der Stücke ummantelt mit akustischen Mitteln, mit reduzierter Instrumentalisierung, in die Jetzt-Zeit übersetzt in jetziger Persönlichkeit und sind mit Frohsinn über die Beständigkeit des Liedes (alle lachen) vorgegangen. Eine Spiegelung, eine Reflexion, eine Bestandsaufnahme zum 20-jährigen Geburtstag.

LEO: Ach, war das schön!

CHRISTIAN: Wir waren auf jeden Fall sehr frei dabei. Wir haben jedes Lied betrachtet und uns gefragt, wie man das anders machen kann und was der Sinn des Textes ist. Bei „Die Besten“ sind wir sehr extrem vorgegangen.

Inwiefern?

CHRISTIAN: Der Text ist eigentlich sehr traurig und die Akkorde waren alle in Dur. Wir haben dann gesagt, dass wir mal probieren sollten, ob das auch in Moll geht. Und das haben wir dann auch gemacht.

LEO: Das war übrigens das erste Stück. In Hamburg in der Schanze haben wir das aufgenommen. Nachdem wir getourt hatten, kam die Idee, dass wir uns mal in einem Selig-Camp bei einem Kaffee treffen. Das haben wir dann im Karo-Viertel gemacht und haben uns drei Tage lang alle Lieder angehört.

JAN: Das war wie eine WG. Wir haben bei einem Freund gewohnt. Und dann saßen wir da und haben uns wirklich alle Lieder angehört. Von der ersten bis zur letzten Platte. Und das waren echt eine Menge. Wirklich eine Menge!

Klingt fast überrascht. Gehen neben dem Überblick auch die Emotionen langsam flöten, die einen ursprünglich mit den Stücken verbunden haben?

LEO: Ja, wir hatten da so ein Spiel: Es lief ein Lied und jeder hatte dann einen Zettel und einen Stift und hat, während wir es gehört haben, aufgeschrieben, was er damit verbindet. Danach haben wir uns das vorgelesen und da kamen Sachen bei raus – das war wirklich irre. Man wusste das dann tatsächlich gar nicht mehr so, wie die Stücke entstanden sind oder was man während des Spielens dabei erlebt hat.

Viele Fans werden auch ganz persönlichen Erinnerungen haben, die an den Ur-Versionen hängen. Habt ihr Angst, dass vielen die Veränderung missfallen?

JAN: Das ist natürlich ein Experiment, ne? Wir sind auf jeden Fall sehr aufgeregt, wie die Platte dort draußen aufgenommen wird.

STEPHAN: Da kommt bestimmt auch „Das rockt ja so gar nicht!“ und „Wo zum Teufel sind denn die ganzen Gitarren hin?“.

LEO: Aber es ist ja immer noch so: Wenn jetzt jemand mit dem alten „Ohne Dich“ so viel verbindet, dann kann er ja das hören. Wir haben das so gemacht, wie es heute für uns passt.

Wie sehr beeinflussen einen die Stimmen von außen immer noch? Gerade in eurer ersten Phase wurdet Ihr mit einem großen Medienrummel und sehr ambivalenten Meinungsbild konfrontiert.

JAN: Man hat den eigenen Wahnsinn inwzischen akzeptiert. Früher gab es da so einen Kurzschluss, wenn man noch in dieser Findungsphase ist und von außen so betrachtet wird. Man weiß dann gar nicht mehr, ob man noch richtig ist oder man nur so agiert, weil man in der Öffentlichkeit steht. Das hat sich gelegt. Man ist jetzt erwachsen, kann damit umgehen und sitzt irgendwie so ganz normal in der U-Bahn. Manchmal ist das schon schräg, wenn jemand nach einem Autogramm fragt, aber man wird aber nicht mehr paranoid.

CHRISTIAN: Es gab echt eine Szene in Kreuzberg, da saßen wir beim Italiener und da kam jemand vorbei, der meinte einfach nur „Es tut mir so leid!“. Und wir so „Was?!“

Hat Euch das bisweilen verärgert, wenn die Bedeutung, die man seinen Titeln zumisst, hinter den Beurteilungen von außen bleibt?

CHRISTIAN: Damals hat uns das irritiert, weil man es ja mit allem Herzblut so gut wie möglich zu machen versucht hat. Wir haben echt alles gegeben für diese Band. 24 Stunden. Und immer überprüft, ob wir gut sind.

JAN: Was aber eigentlich lustig ist: Wir haben eigentlich mehr gute Kritik gekriegt als schlechte. Aber im Zeitungsladen ist man hingegangen, hat eine Zeitung aufgeschlagen, einen Satz herausgepickt und das war dann die eine schlechte Kritik.

Von allen Alben wurde Blender am meisten bejubelt. Unter den Neuaufnahmen findet sich aber kein einziger Titel dieser Platte.

STEPHAN: Ja, wir haben ein paar Mal versucht das ein oder andere Blender-Lied zu spielen, aber das war dann ganz schnell wieder abgewählt.

JAN: Das liegt an der Zeit, in der wir die Platte aufgenommen haben. Zwischen den Zeilen der Blender-Platte steht eigentlich eine riesige Absage an die Musik-Industrie und an uns. Das ist eigentlich wie so ein Abschiedsbrief. Das war eine wahnsinnig depressive Zeit, die wir damit verbracht haben. Deswegen hat es aus dieser Zeit auch nichts auf die Platte geschafft. Das passte nicht. Wieso schlechtes Karma?

Hört sich alles danach an, als hätte Euch die eigene Geschichte und Pause reifen lassen – als hätte die Platte noch mal einen zusammenschweißenden Charakter.

JAN: Diese Bestandsaufnahme wirklich unglaublich dazu beigetragen. Die Zeit hätte man nutzen können, um ein neues Album aufzunehmen, aber wir haben stattdessen angefangen uns für Selig zu interessieren. Wir haben uns alte Konzerte angesehen und Platten gehört, um zu begreifen, was wir sind. Durch diese Platte, die wir jetzt gemacht haben, haben wir auch für die Zukunft viel getan. Wir haben einen Strich unter Selig gemacht, um weiterzumachen.

SELIG
Die Besten (1994-2004)
(Motor / Sony Music)
VÖ: 10.10.2014

www.selig.eu

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