Als zum Tode Margaret Thatchers im letzten Jahr überall in England ein ganz bestimmtes Lied erklang, schmunzelten die Journalisten hierzulande. Es ist doch immer wieder erstaunlich, wie laut gestandene Musikkritiker einen Mann bejauchzen, wenn er MORRISSEY heißt: der einflussreichste Musiker des 20. Jahrhunderts, eine lebende Legende, ein moderner Oscar Wilde, diese grauen Schläfen! Und auch das 13. Studioalbum lässt sich einfach nicht unter den Tisch reden, nein, es ist gar sein bestes seit You Are The Quarry. Nun hat die Welt im letzten Jahr erst seine Autobiografie gelesen und mehr bejubelt als je seine Musik. Was bleibt ihm und den Jounalisten da sonst übrig, als immer wieder auf seine neueste Veröffentlichung hinzuweisen? Diese ist wirklich so kauzig und schön geworden, wie man es sich wünschen darf. Das ist wohl auch seinem Produzenten Joe Chiccarelli zu verdanken.
Zu Anfang hören wir die herannahenden Trommeln einer vorbeiziehenden Antikriegsdemo und MORRISSEY tätschelt einem Wutbürger über’s Köpfchen und weist ihn mit der sanften Stimme eines Politikers zurecht: ‚World Peace Is None Of Your Business‘. Hier meldet sich der skeptisch-distinguierte Gentleman zu Wort: „Each time you vote you support the process.“ Natürlich könnte man ihm jetzt vorwerfen, er rede der Post-Demokratie das Wort, aber er darf solche Kritik einfach. Schließlich hat er sich bereits an der No-Vote-Bewegung beteiligt.
Wer wenn nicht er, soll sich denn vor die Massen stellen und etwa verkünden, er sei weitaus mehr als ein bloßer „Mann“ (‚I’m Not A Man‘)? Hat MORRISSEY früher schon seine Sexualität geleugnet, ist jetzt eben auch das Geschlecht dran. In klaren, verachtenden Worten rafft er sich auf gegen all die fetten, hässlichen Mannsbilder unserer Zeit. Der Sänger steht allein im Herrensalon und ist sich seines Status völlig bewusst. Er ist das, was man klassisch „vollendet“ nannte. Und als „Star“ kann man schließlich auch einiges bewirken.
Im köstlichen Britpopsong ‚Staircase At The University‘ warnt er die Jugend vor dem Leistungsdruck, an dem sich hier eine Studentin im wahrsten Sinne des Wortes den Kopf zerbricht. Dieses Stück wirkt wie das Gegenteil von dem bitterkalten Klassiker ‚Michael’s Bones‘. Sprach der Sänger damals nur in Andeutungen vom frühen Selbstmord, ist hier alles nackt und bloß. Zynismus ist immer noch seine Stärke. Gern erinnert man sich, wie er einst in einer Priesterobe bei „Top of the Pops“ vor lauter Teenagern ‚I have forgiven Jesus‘ sang und auf diese Weise augenzwinkernd auf pädophile Geistliche hinwies.
Nicht weniger eindrücklich und spaßig erstrahlt ‚Kick The Bride Down The Aisle‘. Auch hier tritt Pater STEVEN PATRICK auf und redet dem angehenden Bräutigam noch einmal gründlich ins Gewissen: „She just wants a slave!“ Ja, auch auf der Institution Vernunftehe trampelt MORRISSEY zu Orgel und Schlagzeug herum. Und ist etwa seine Stimme noch klarer geworden als bei seinem Vorgängeralbum vor fünf Jahren?
Ein paar Überraschungen packt der Herr oben drauf: Das Tribut an die Beat-Poeten ‚Neal Cassady Drops Dead‘ ist das einzige rockige Stück. Von dem Popsong ‚Rhythm Of Life‘ von HUGH HARRIS hat MORRISSEY dagegen einen nervigen Ohrwurm (‚Oboe Concerto‘). Sein Keyboarder GUSTAVO MANZUR bringt zudem mit ‚Earth Is The Loneliest Planet‘ einen echten Flamenco auf die Bühne. Hiermit ist im Grunde alles gesagt, was es braucht, um MORRISSEYS neues Respektwerk abzufeiern. Und wer noch nicht genug hat: In der Special Edition befindet sich eine zweite CD mit sechs weiteren Songs, die jedoch viel ruhiger daherkommen.
MORRISSEY + ANNA CALVI am 23.11.14 live in Berlin in der Columbiahalle
MORRISSEY
World Peace Is None Of Your Business
(Harvest Recording)
VÖ: 11.07.14
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