JULIAN CASABLANCAS am 03.12.2009 in der Maria


Was ist nur passiert?



Charakteristisches Verhalten lässt sich heute in der Berliner Maria am Ostbahnhof beobachten. Die Ellenbogen werden geschürzt. Beim leisesten Anzeichen eines Atemhauchs im Nacken wird verstohlen nach rechts, nach links gespäht. Am besten einmal eine standfestere Haltung einnehmen. Es ist 21 Uhr. Nebel umweht die Bühne, das Kreischen geht los. „Alright, let’s get this done!“ – als einleitende Kaltschnäuzigkeit der Hauptfigur des heutigen Abends: JULIAN CASABLANCAS.

Mystisch-nebulöse Anfangsklänge ertönen ‚Out Of The Blue‘ und dazu in repräsentativer Fasson: ein Sänger ohne jede Gesichtsregung; desinteressierte Trägheit, die nur von seinen Händen keinen Besitz ergriffen hat, denn diese: in charakteristischer Klammerhaltung um das Mikrofon. Eingedenk des neuen Soloalbums müsste man nun fortsetzen: spielerischer Synthpop komplettiert, Entschuldigung, typische Strokesgitarren, typischen Strokesgesang – keinesfalls negativ konnotiert, sondern lediglich eine treffendere Bezeichnung als jede Umschreibung der Klänge es wäre. Das Problem ist nur, wo ist der Gesang denn nun? Wo sind die Gitarren?

Auf Suche nach einer Antwort ein Blick ins Publikum. Lärmendes Mädchen gen Norden: am Dauerfotografieren. Mit ihrer kleinen Hand versucht sie vergebens, den süßen Julian doch einmal kurz herzuwinken. Es wäre ja schließlich viel schöner, sähe er in die Linse. Erfolglos, doch es hilft nichts: durchhalten, oder, um mit dem New Yorker Sänger zu sprechen: „Let’s Get This Shit Done“. Da macht es auch wenig, dass sich dieser Ausspruch selbstredend auf keinerlei Kamera bezieht, sondern damit ausschließlich seine lästige Bühnenpräsenz gemeint ist.

Schweifen gen Westen: drei grölende, junge Herren treten in munteres Zwiegespräch mit dem Protagonisten „Yeeahh JULIAN YOU ROCK! PLAY STROKES!“ – „No thank you.“ Umlenken nach Osten: zahlreiche glänzende Augen, funkelnd. Ob neben unerschöpflicher Begeisterung auch der strikte Kampfwille aus ihnen spricht, den Platz weiterhin so mühsam zu verteidigen, bleibt im Gegensatz zu einer anderen Tatsache unklar: es ist so augenscheinlich, diese Divergenz im Verhalten Jubelnde-Bejubelter: fehlende Verhältnismäßigkeit auf beiden Seiten.

Auf der kontinuierlichen Weitersuche nach Gesang und Gitarren fällt der Blick zurück auf die Bühne, wo sind sie denn nun? Die Antwort wird offenkundig, folgt man des Protagonisten Wegs über einen Klaps auf die Diskokugel zum Schlagzeuger. Es mag ja sein, dass dieser seinen Broterwerb einmal aus dem Musizieren in einer Speed-Punk-Band zog (reine Spekulation, Anm.). Vielleicht sollte er dennoch versuchen, eine Spur weniger zu preschen und den Blick auf die ihm unfreiwilligerweise ebenfalls zu Füßen liegenden Mädchenmassen werfen, um zu erkennen: das Anarchiezeichen in ihren Augen erklärt sich nur aus grenzenloser CASABLANCAS-Verehrung. Selbiger in Grätsche und Gefecht mit der omnipräsenten Rhythmusdominanz. Über den Seitenhieb von links kann man dann im nächsten Moment froh sein, denn so wird man etwas von seinem Platz vor der Box verdrängt und erkennt: dahinter verbirgt sich tatsächlich ein zweites Schlagzeug. Deswegen dieser musikalische Kampf, aus dem sich dann wohl auch des Sängers gesamte Einkleidung in Leder, groben Stiefeln und Militärgürtel erklärt.

Nichtsdestotrotz ist ihm eine gewisse Anziehung ja immer noch zu eigen, man kann sich ein neugieriges Lächeln nicht verkneifen. Eine Gemütsregung, die einem jedoch nur kurze Zeit später im Halse stecken bleibt, ertönt doch eine Coverversion des ‚You Only Live Once‘ vom 2006er First Impressions of Earth-Werk. Die auferlegte Selbstkasteiung, das wehmuttriefende Wort „früher“ in einem Artikel über JULIAN CASABLANCAS‘ Solopfade nicht zu verwenden, kann dieser Wirklichkeit nicht standhalten. Wie konnte das nur passieren? Früher also, da funktionierte das musikalische Konstrukt auch auf den Gipfeln der arroganten Überheblichkeit. Man könnte im Stroke’schen Erfolgsprinzip besagte Arroganz sogar als obligatorische Schraube im Gewinde bezeichnen. Heute liegt sie nun einsam und traurig auf dem Boden, eine einzelne Schraube als klirrende Reminiszenz an bessere Zeiten, die man fast vergessen hatte.

http://www.juliancasablancas.com
http://www.myspace.com/juliancasablancas

Autor: [EMAIL=lisa.forster@popmonitor.de?Subject=Kontakt von der Website]Lisa Forster[/EMAIL]

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