Man sagt, wahre Künstler fangen die Stimmung ihrer Umgebung ein und auch das, was sich dort bereits zusammenbraut. LAURIE ANDERSON ist so eine Künstlerin. 1981 findet der rein experimentelle Song ‚Oh Superman (For Massenet)‘, der eigentlich Teil ihres Performance-Programms „United States I-IV“ ist, seinen Weg von dem kleinen Label One Ten Records in britische Diskos. DJ JOHN PEEL spielt ihn und er landet auf Platz 2 der Charts. Überrascht, dass ihre Arbeit so viel Anklang findet, veröffentlicht ANDERSON ein Jahr darauf Big Science, ein epochales Werk des Avantgarde-Pop.
Die Wende zu den 1980ern ist eine Umbruchszeit: Die elektronische Tanzmusik entsteht und 1981 geht MTV auf Sendung. ANDERSON, die aus der New Yorker Künstlerszene kommt und mit Elektronik, Violine und Neuen Medien experimentiert, saugt die Ängste und Träume der amerikanischen Gesellschaft auf. Ihr erstes Album wird ein Gesellschaftsroman.
Der erste Irakkrieg scheitert. Die Ölkrise hat die USA verunsichert. Als Reaktion kommen zwei Ideologien an die Macht, die die nächsten 30 Jahre prägen: Neokonservatismus und Neoliberalismus. Sie sind die ‚Big Science‘, die ANDERSON mythisch beschwört. Sie singt und erzählt von seltsamen Beobachtungen der totalen Vereinzelung: „Great big signs and they all say: Hallelujah. Yodellayheehoo. Every man for himself.“
‚Oh Superman (For Massenet)‘ selbst ist ein Denkmal für die amerikanische Hybris: auf ein unendliches „Ha-Ha“ legt sich eine Parodie der Arie ‚Ô Souverain, ô juge, ô père‘ aus der Oper Le Cid. Während sie ihre Stimme technisch verfremdet, arbeitet ANDERSON in ihrer Performance, zu der ein Video gedreht wurde, eine Art Zeichensprache ab. Es geht um Gewalt, Gerechtigkeit und zu rettende Menschlichkeit angesichts künstlicher Menschen, wie sie auch KRAFTWERK verkörperten. Das Stück ist eine Reaktion auf die Iran-Contra-Affäre.
2001 kommt ANDERSON auf ihrer Life On A String-Tour im September kurz nach den Anschlägen auch nach New York. Das Konzert ist erhältlich (Live in New York, 2002). Hier spielt sie ihren Hit und es läuft ihr kalt über den Rücken, als sie die Zeilen singt: „This is the hand. The hand that takes. Here come the planes. They’re American planes.“ Dieses Verhängnis verarbeitet auch der Hiphopper MR.LIFE in ‚Home of the Brave‘. Bereits in dem Big Science-Opener ‚From The Air‘ beschreibt ANDERSON ein Flugzeug, das in eine ungewisse Zukunft fliegt.
Das Album wurde 2007 remastered neu veröffentlicht. Doch was kann es uns heute noch sagen? Wir erleben den Abstieg eines Hegemons mit: Der „Pax Americana“ ist vorüber, das „Ende der Geschichte“ auch. Der zweite Irakkrieg verlief schmachvoll, die zweite Weltwirtschaftskrise zwingt die USA zu harten Schnitten. Sowohl der „Militärisch-industrielle Komplex“, als auch die „masters of the universe“ von der Wallstreet raufen sich die Haare. Und Obama weiß kaum, die gespaltene amerikanische Gesellschaft zusammen zu halten. Andererseits hat Elektro die Welt erobert und MTV ist überflüssig geworden.
Was bleibt, ist ein visionäres Stück Zeitgeschichte, das mit seinen spannend arrangierten Tracks und Texten noch immer erstaunt und die Neugier entfacht: Wie wird es jetzt weitergehen?
LAURIE ANDERSON
Big Science (25th Anniversary Edition)
(Nonesuch Recording)
VÖ: 17.06.2007
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