LE GUESS WHO? Festival | 28.11. – 01.12.2013 | Utrecht


Von einem Festival, das eigentlich zu gut ist.



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Zunächst bestreitet Mark Lanegan seinen Auftritt im fluoriszierenden Licht der großen Kirche „Janskerk“ mitten in Utrecht. In der Auswahl von jüngeren und älteren Liedern legt sich sein warm-rauchiger Bass über die Säulen und erfüllt den großen Raum mit einer morbiden Feierlichkeit. Ganz still ist es, als er, in Hommage an den jüngst Verstorbenen, Lou Reeds „Satellite of Love“ anstimmt und in der Luft die Melodien nachzeichnet. Der Applaus am Ende ist lang, als der US-amerikanische Songwriter auf einem Stuhl versinkt und seine Hände leicht erschöpft ins Handtuch gräbt.

Einige Minuten später steht man draußen auf den Pflastersteinen und ist von der Dunkelheit umhüllt. In den Bäumen hängen Lichterketten, deren Licht sich im Wasser der Grachten spiegelt, der Dom läutet. Die Stimmung ist fast schon märchenhaft. In diesen Tagen und Nächten wird Utrecht bevölkert sein von Gesichtern, die man irgendwann wiedererkennt: Während der Konzerte, am Bahnhof, am Siebdruck-Stand, beim nächtlichen Imbiss, um Pommes mit Erdnusssoße zu essen, oder an einer der zahlreichen, die Stadt umschlängelnden Grachten.
Utrechts Clubs sind klein und die Menschen entspannter, als man es von vielen deutschen Festivals kennt. Gedränge oder Taschenkontrollen gibt es nicht, dafür Merchandise-Stände, bei denen ein Plastikbecher mit ein paar Geldscheinen zum Wechseln den Verkäufer ersetzt.

So beispielsweise beim Konzert des kanadischen Musikers Spencer Krug, der unter dem Namen Moonface im Herbst sein drittes Album veröffentlicht hat. Von den Indie-Bands Wolf Parade und Sunset Rubdown ist Krug bekannt für sein avanciertes Songwriting voller dramatischer Bögen und traumverlorener Songtexte. Für sein aktuelles Album „Julia with Blue Jeans On“ hat er das Instrumentarium auf einen Flügel reduziert und damit bewiesen, wie versiert er sich nicht nur im Indie-Rock-Outfit, sondern auch im klassischen Pianospiel bewegt.

In Utrecht stellt er diese Lieder vor, und während seine Finger auf den Tasten hochfeine Geschichten erfinden, singt er mit seiner brüchigen, markanten Stimme darüber. Auf seinem Hocker bebt Krug ein bisschen, versinkt über den Tasten, seine Hände zittern und das Publikum ist ganz still. Zusammen mit dem schmalen, dunkel gekleideten Menschen dort auf der Bühne ist man kurz davor, komplett von der Musik überwältigt zu werden. Doch dann bricht Krug die Stimmung, fordert scherzhaft zum Stagediven durch die Stuhlreihen auf, schlägt den Besuchern vor, doch mehr Bier zu trinken und fordert die Techniker auf, das Licht zu dimmen, da er sich im Spotlight nicht so wohl fühle.

Das Publikum dankt ihm das Konzert mit stehenden Ovationen. Da ist klar, dass jeder, der danach auf die Bühne kommt, einen schweren Stand hat. Als Dan Bejar von der kanadischen Band Destroyer nach einer kurzen Pause beginnt, ein paar lässige Akkorde an der Gitarre anzustimmen, ist man von dem, was man gerade erlebt hat, noch viel zu eingenommen.

Ohnehin ist man bereits in Zeitdruck, denn bevor Damien Jurado seine samtig traurigen Folksongs vorspielt und dazwischen das Publikum unterhält („Wenn ich so wäre, wie meine Musik klingt, wäre ich nicht hier, sondern in der Psychiatrie und würde nur vorgeben, zu spielen!“), möchte man noch essen gehen.

Damit ist auch das einzige Problem, das einen während dieser Tage begegnen kann, angedeutet. Das Line-Up des niederländischen Festivals ist – und die Absurdität dieser Klage ist der Verfasserin bewusst – eigentlich zu gut. Es braucht einen nicht zu geringen Planungsaufwand, um rechtzeitig von Ort zu Ort zu kommen und möglichst viele der auftretenden MusikerInnen zu erleben.

Trotzdem wird man einige der spannenden Acts immer verpassen. Im Grunde ließe sich auch ein Text über all diejenigen Bands schreiben, die man gerne sehen wollte, aber nicht konnte, weil sie zeitgleich mit etwas ebenso Gutem auftraten: Die legendäre Folksängerin Linda Perhacs etwa, die kalifornische Garageband White Fence, The Dodos, Forest Swords oder Connan Mockasin, um nur einige der verpassten MusikerInnen zu nennen.

Auch um noch rechtzeitig den Auftritt von Ty Segall zu erreichen, muss man ein bisschen hetzen und die letzten Meter zum Club rennen. Der kalifornische Musiker stellt dort nicht nur sein aktuelles, akustisches Album „Sleeper“ vor, sondern kuratiert für einen Abend auch das Programm in der Konzertstätte „Tivoli de Helling“. Nach Segalls eigenem Auftritt wird die Bühne von Punkrock-Klängen und frenetischen Gitarrensoli dominiert. Vor und nach ihm treten befreundete Musiker wie Mike Donovan der vor kurzem aufgelösten Band Thee Oh Sees auf, außerdem White Fence, Magnetix, J. C. Satan und Jacuzzi Boys.

Da Segalls Konzerte in der Vergangenheit vor allem von rumpeligem Garage-Pop, ausufernden Pogos und Feedback-Stürmen dominiert wurden, erwartet man das halbakustische Set mit Spannung. Die Stücke von „Sleeper“, die auf der Platte nur von einer Gitarre, etwas elegischem Geigenspiel oder ein paar leisen Trommeln begleitet werden, gewinnen live an Dynamik und Stärke. Auf der Bühne schüttelt Segall seine Haare, steigert sich in wildes Gitarrenspiel oder wechselt kurzzeitig an die Drums. Irgendwann beginnt er, zusammen mit seiner Live-Band auch ältere, punkigere Stücke zu spielen. Doch es brauchte nicht erst die Akkorde von „Girlfriend“ oder „You’re The Doctor“, um den Club in einen tanzenden Mob zu verwandeln.



Es ist interessant, zu sehen, welche Popularität Segall inzwischen genießt. Nach dem Konzert betteln ihn ein paar besonders hartnäckige Fans um Plektren und andere Reliquien an, der Musiker lächelt und ist einigermaßen irritiert. Vielleicht liegt es an dieser Publikumsfixierung, dass er im Laufe des Abends nur noch ein paar Mal vorsichtig hinter dem Vorhang der Bühne hervorlugt, um sich die Bands anzusehen und sich ansonsten nicht mehr auf seinem eigens zusammengestellten Konzertprogramm zeigt.

Auch die Besucherin muss die Halle vorzeitig verlassen, möchte sie sich rechtzeitig das Konzert der texanischen, psychedelischen Rock-Band The Black Angels ansehen. Deren Feedback-Schleifen wabern gemächlich durch die Luft, die abwechslungsreiche, doch eingängige Rhythmusarbeit lässt einen schnell mitwippen. Später in der Nacht wird man die Mitglieder der Band auf der Tanzfläche wiedersehen, wo sie zu den alten Soul- und Rock’n’Roll-Platten des New Yorker DJs Jonathan Toubin miteinander tanzen.



Das nostalgische DJ-Set des New Yorkers ist so tanzanregend zusammengestellt, dass die Veranstalter des Guess Who-Festivals ihn für die nächste Nacht gleich noch einmal verpflichtet haben. Dieses Mal veranstaltet er seinen unter dem Namen „New York Night Train’s Soul Clap & Dance-Off!“ bekannten Tanzwettbewerb. Der Gewinner ist nach vielen Tanzrunden, zu denen sich jeder anmelden konnte, ein Bandmitglied der New Yorker Band Crystal Stilts, der die Menge mit eleganten Kreiselbewegungen und seinen shaky hips überzeugte.

Crystal Stilts haben wenig vorher einen etwas nebligen Auftritt bestritten. Sänger Brad Hargett lächelt milde und vermittelt den Eindruck, bereits das ein oder andere Grasgewächs geraucht zu haben. Das sei häufiger ein Problem, erzählt eine Amsterdamerin, wenn internationale Bands für Auftritte in die Niederlande kommen. Anscheinend ist die Versuchung der Coffee Shops groß.

Nüchterner beschreitet Ed Askew seinen Auftritt. Die Geschichte dieses Songwriters, der in seinen Siebzigern ist und aus der Gegend um New York stammt, liest sich ähnlich wie die des Folksängers Rodriguez. Es ist die eines eigenbrötlerischen, zurückgezogen lebenden Musikers, der nach der Veröffentlichung von ein paar tollen Folkstücken aus jener medialen Aufmerksamkeit verschwand, die ihm ohnehin nie wirklich zuteil wurde. 1966 erschien sein inzwischen oft gerühmtes Folk-Debüt „Ask The Unicorn“. Es ist voller einfacher, doch dringlicher und eingängiger Stücke, die an den frühen Dylan erinnern. Nach einer 30jährigen Pause veröffentlichte er 1999 sein zweites Album in Eigenregie, es folgten vier Platten auf verschiedenen, kleinen Labels. Auf seinem aktuellen, 2013 erschienenen Album „For The World“ kollaboriert er unter anderem mit der jungen Folksängerin Sharon van Etten. Internetartikel über ihn tragen Titel wie „Forgotten Songwriters“ oder „NY Legend“.

Anders als Rodriguez tritt Askew inzwischen wieder auf. Immer wieder haben ihn Leute dazu aufgefordert, erzählt er während seines Konzerts in Utrecht. Sein Auftritt in der großen „Janskerk“-Kirche hat etwas Rührendes. Wie seine Stimme wirkt auch er selbst inzwischen ein bisschen gebrechlich. Ab und zu schallt sein Husten durch den großen Raum, oder das Rascheln der Blätter auf seinem Notenständer. In den Sitzbänken vor ihm und seiner jungen Begleitband herrscht eine intime Stimmung, man fühlt sich vollkommen aus der Zeit gefallen.

Wie konträr ist dazu der Auftritt eines anderen, ehrwürdigen alten Herren der Rockgeschichte. Mark E. Smith tritt in unterschiedlichen Besetzungen seit 1976 als Post-Punk-Formation The Fall auf und war in der Vergangenheit neben seinem überaus produktiven Veröffentlichungs-Rhythmus vor allem für seine wilden Liveshows bekannt, die öfter einmal in Schlägereien mündeten. Davon kann bei ihrer Performance auf dem Guess Who-Festival nicht die Rede sein. Schnodderig präsentiert sich Smith hier mit einer Hand in der Hosentasche und trägt seinen typischen, nuschelnd-aggressiven Sprechgesang vor. Immer wieder setzt er sich hinter einen großen Verstärker und blättert in ein paar Notizen, auf denen vielleicht die Songtexte abgedruckt sind, wahrscheinlich aber etwas ganz anderes. Ein bisschen dreht er an den Reglern seiner MitmusikerInnen herum, die davon unbeeindruckt weiter im rhythmischen Gleichschritt nach vorne schreiten: punktgenau, versiert, ein bisschen schroff.

The Fall schaffen Musik, deren destruktive Kraft im Kontakt mit dem Publikum zu etwas ungemein Energetischem wird. Diese Gabe teilen sie mit der kanadischen Hardcore-Punkband Metz, die ebenfalls auf dem Festival auftritt. Bei beiden Konzerten ist das Publikum eine pogende Masse, die begeistert die Arme nach vorne reckt.

Doch während Metz mit ihren trotz aller Aggressivität sorgsam arrangierten Screams und Rhythmen auf durchweg positive Resonanz stoßen, lassen sich über The Fall nach ihrem Auftritt auch negative Stimmen vernehmen: „Wollen die uns verarschen?“, fragt ein junger, spanischer Besucher, nach dem schlechtesten Konzert des Festivals gefragt. Smiths Anti-Pose ist eben nicht jedermanns Sache.

„I got to see The Fall! Checked it off my list of things to do before I die”, bemerkt hingegen Ty Segall in einem kleinen www.leguesswho.nl

Autor: [EMAIL=lisa.forster@popmonitor.de?Subject=Kontakt von der Website]Lisa Forster[/EMAIL]

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