Leute zu Kindern?

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Älteren Leuten ist nicht recht wohl heutzutage. Sie bekommen Dinge mit, die ihnen unheimlich sind und die sie nicht benennen können. Alles Neue scheint sich sehr schnell und massenhaft zu entwickeln. Ein etwas hilfloser Begriff, den man in letzter Zeit öfter liest, ist der der „Infantilisierung“. Darunter werden so unterschiedliche Dinge verstanden wie Facebook; Erwachsene, die sich jugendlich kleiden und jugendliche Musik hören oder auch Unhöflichkeit im alltäglichen Umgang. Aber ist die These von der Verniedlichung unserer Gesellschaft und der Musik mehr als nur das konservative Zucken, bevor die Hand nach dem Rohrstock greift?

Der Soziologe Jeffrey Jensen Arnett stellt fest, das die „68er-Generation“ durch Ausbau von Lehre und Studium ein zusätzliches Jahrzehnt schuf, in dem Leute jugendlich sein können. Die „emerging adulthood“ reicht also über das Teenager-Alter, das bekanntlich zur Rock’n’Roll-Zeit erfunden wurde, hinaus bis in die späten Twenty-Jahre. Doch offensichtlich geht diese Entwicklung auch in die andere Richtung: Kinder benehmen sich spätestens seit den 90ern immer früher durch Wissen und Auftreten jugendlich.

Aber blicken wir noch länger zurück. Das Bürgertum erfand im 19. Jahrhundert die „Kindheit“ als Zeit vollkommener Unschuld und Machtlosigkeit. Kinder waren die engelsgleichen Satansbraten, die von den Erwachsenen vollkommen beherrscht und erzogen werden mussten. Drill und Gehorsam machte sie in den Jugendorganisationen der Diktaturen zu willenlosen zukünftigen Soldaten. Die schwarze, autoritäre Pädagogik im 19. und 20. machte Kinder in Erziehungsheimen zu Arbeits- und Sexsklaven. Das Ausmaß wird erst jetzt klar: 2009 hatte Irland, 2010 Deutschland und dieses Jahr England seinen Heimskandal. Doch diese „Erziehung“ wurde seit dem Aufbegehren der Jugend in den 60ern bekämpft.

Die Pädagogik entdeckte das Kind als Subjekt, den Schüler als zukünftigen Bürger und die Wirtschaft als zumindest indirekten Konsumenten. Mit jeder Kinderkohorte ging die vorherige Erwachsenengeneration verständnisvoller um. Es tritt ein kollektives Vergessen „erwachsener“ Verhaltensweisen ein, während Jugendkultur aus den Subkulturen heraus zum Allgemeingut wird.
Doch ist die Frage, ob es heutzutage mehr Spaß macht, Kind zu sein, nicht so leicht zu bejahen.

Heutige Sechstklässler glauben, Sexstellungen genauso kennen zu müssen wie Yu-Gi-Oh-Karten, Mode- und Automarken oder Musikgruppen. Seltsam wird es, wenn die, denen man die wenigste Expertise zuspricht, plötzlich am Diskurs über die Musik teilnehmen.

Als in den 2000ern Pornorap aus Kinderzimmern drang und die Top-Ten der Popcharts nur noch aus Klingeltönen bestanden (‚Dragostea din tei‘, ‚Schnappi‘), rieben sich viele Leute verwundert die Augen. Kinder wurden jetzt zur werberelevanten Zielgruppe gezählt. Die Werbeindustrie spricht sie – nicht mehr ihre Eltern – direkt an. Konzerne wie Facebook und IKEA dutzen ihre Kunden inzwischen sogar generell. Fernsehsender sind auf Kinder zugeschnitten, genau wie etwa „Radio Teddy“, das ihnen Deutschpop vorsetzt. Die Waltdisney-Pop-Produkte „High School Musical“ und HANNAH MONTANA haben Millionen eingespielt und Popacts wie OWL CITY setzen ganz unverhohlen auf Kindergeburtstag (‚Good Time‘).

Dazu kommt, dass die vorangegangene „Generation Internet“ aus den 90ern von einem Retro-Rausch ergriffen ist, der nicht nur alte Computerspiele feiert. Auch das Nineties-Revival in der Musik gibt Zeugnis von dem Wunsch ab, sich nochmal ganz jung zu fühlen – „Forever Young“ als Lebenseinstellung.

Das Internet stellt Kindern riesige Räume des Kennenlernens und Diskutierens zur Verfügung, die sie nie zuvor in der Menschheitsgeschichte bekamen. Hatte ein Kind vor 30 Jahren noch insgesamt 10 Freunde, weil es sie aus Kindergarten und Schule kannte, können Kinder nun mit hunderten anderen in Kontakt treten. Sie sind es, die auf Youtube kleine lokale Rapper oder Gestalten wie Buddy Ögün und PSY hochraten. Sie wählen eifrig bei Casting-Shows mit und gründen bei Schülercc Gruppen, in denen sie sich über Musikgeschmack austauschen.

Gleichzeitig finden sie jetzt Möglichkeiten, erwachsener Kontrolle vollkommen zu entgehen und andere Kinder mit Cybermobbing zu kränken. Halbbewusst der weltweiten Kinderpornografie und Missbrauchsverbrechen unterstützen sie sogar Online-Nazi-Gruppen, die zur Wiedereinführung der Todesstrafe aufrufen. Als linkes Gegenbeispiel wären die Bildungsstreiks gegen Ende der 2000er zu nennen. Diese begannen 2006 mit Schülern, die durch Berliner Stadtzüge für bessere Schulen demonstrierten.

Die Gesellschaft wird also nicht kindischer, sondern kindlicher. Kinder sind jetzt als relevante Minderheit zu betrachten. Darin liegt für die nachwuchsschwache alternative Musikkultur sogar eine Chance: Wenn Kindern Billig-Rap, Schlager und Plastik-Pop als Kindermusik verkauft wird, werden sie als Teenager ihre Augen und Ohren auf das richten, was sie nicht in und auswendig kennen.

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