Tallinn Music Week 2017 – Der komplette Ticker

Foto: neverleavetheclouds

Mittwoch | 29.03. | Warm-Up

Zum dritten Mal in Folge berichten wir im Rahmen von Poptravel von der TALLINN MUSIC WEEK (TMW), dem größten New Talent-Festival im gesamten nordisch-baltischen Raum. Rund 200 Acts reisen dieser Tage in die Hauptstadt Estlands im festen Glauben daran, das next big thing zu sein – oder doch zumindest eine wirklich große Nummer. Noch ehe das Musikprogramm am heutigen Donnerstag mit einem Opening-Event im einstigen Kraftwerk und jetzigen Culture Hub Kultuurikatel eröffnet wird (mehr dazu sicher morgen), konnten wir gestern Abend an einem ganz besonderen Dinner teilnehmen, das zu #TMWTASTES gehört, dem Gastro-Segment der Music Week.

Foto: neverleavetheclouds

Star-Koch Peeter Pihel verwendete für sein Trash Cooking-Menü ausschließlich Zutaten, die ansonsten traurigerweise in der Tonne landen – Brot von gestern, Innereien, Tannennadeln und Kakaonussschalen. Klar, das verläuft ein bisschen nach dem Hit-and-Miss-Prinzip: Die Lammhirn-Mayo (!) war verblüffend lecker, der halbe Schweineschädel war uns dann allerdings zu viel des Guten – während andere in diesem Hauptgang das Highlight des Abends erlebten. Da bleiben wir dann doch lieber bei der Schüssel mit zerbrochenem Ramen in Brühe aus altem Gemüse und den Kartoffelkeksen zum Dessert. Die Musik dazu kam von der lokalen Sou&Funk-DJane und Musikliebhaberin LIISI VOOLAID, ehe die US-Soul-Rock-Combo MISS VELVET & THE BLUE WOLF einen Impro-Gig in der gegenüberliegenden Konteiner-Bar gab: Live-Brass auf Trompete, Saxophon und Posaune über Tunes von Vinyl. MISS VELVET blieb leider im Publikum.

Foto: neverleavetheclouds

Donnerstag | 30.03. | Opening

Auch wenn das offizielle Eröffnungskonzert erst für den Abend angesetzt war, spielte schon den ganzen Tag über in Tallinn die Musik. So liefen etwa (und das im Grunde bereits seit dem 28. März) die Gigs der kostenlosen CITY STAGE-Reihe, die sich über allerlei überraschende Locations kreuz und quer in der Stadt erstreckt und dabei auch im Hotel (und Media-Hub) Nordic Forum für drei Wohnzimmer-Konzerte Halt machte. Wobei es sich bei den Akustik-Auftritten der estnischen Acts FRANKIE ANIMAL, INDREK SPUNGIN und GO AWAY BIRD im Grunde um Suite-Konzerte handelte, für die es sich die Musikerinnen und Musiker einfach mal auf dem großen Bett in einer Suite im sechsten Stock des Hotels gemütlich machten. Ebenfalls sehenswert fanden wir LIKE A MOTORCYCLE (im Rahmen des Made In Canada-Showcases im Von Krahl) und die wunderbare JENNIE ABRAHAMSON, die im Kohvik Sinilind ein verträumtes, hallüberzogenes Cocteau Twins-Gedächtnis-Set spielte.

Foto: Sarina Wennerqvist

Verpasst haben wir dann leider (wie vieles anderes) das auf Platte ausgezeichnete russische Synth-Pop-Duo SOPRANIE 8 18, doch das Opening im Kulturrikatel durften wir freilich nicht verpassen. Hier setzten die Organisatoren auf bekannte Namen: Sowohl der estnische Dirigent und Sound-Visionär KRISTJAN JÄRVI als auch MAARJA NUUT und HENDRIK KALJUJÄRV (unser Highlight im Programm) sowie die Soft-Popper C DUNCAN waren schon in der Vergangenheit auf der TALLINN MUSIC WEEK aufgetreten. Auch wenn sich in diesen Auftritten teilweise beachtliche corpus-immanente Entwicklungen manifestierten – mehr Mut zum grundsätzlich Neuen und Anderen in diesem festlichen Rahmen wäre schön gewesen. Nächstes Jahr!

Freitag | 31.03. | In die Vollen

Der Freitag markiert im Kalender der TALLINN MUSIC WEEK traditionell die Eröffnung der begleitenden Konferenz. Zu den Highlights zählen in diesem Jahr eine Präsentation zur Eröffnung des weltweiten einzigen Mumin-Museums im finnischen Tampere, ein Interview mit ALEXANDER HACKE (EINSTÜRZENDE NEUBAUTEN), das der britische Rave-Journalist und TMW-Dauergast JOHN ROBB führte, sowie die Buchvorstellung zu Shock And Awe: Glam Rock And Its Legacy von Autor SIMON REYNOLDS (am Samstag). Das Freitagsprogramm mussten wir allerdings sausen lassen, denn zu dieser Zeit statteten wir dem ARVO PÄRT CENTRE einen Besuch ab. Das Durchatmen in den Wäldern vor Tallinn sollte sich als gute Idee erweisen – denn sobald gegen sieben Uhr abends die Showcases in der Stadt begannen, war Schluss mit Luftholen.

So gaben etwa im Mustpeade Maja das schwedische Duo THERE ARE NO MORE FOUR SEASONS und der deutsche Prepared-Pianist VOLKER BERTELMANN alias HAUSCHKA ein gemeinsames Konzert, in dem zunächst die Schweden an Geige und Laptop eine Komposition aus dem 18. Jahrhundert zum postklassischen Crescendo-Rausch dekonstruierten. Im direkten Anschluss stieß Bertelmann zu einer gemeinsamen Improvisation hinzu, die letztlich in sein Solo-Set (und zugleich ins Record-Release-Konzert zum neuen Album What If) mündete, das Finale und Höhepunkt im schrittweisen Abbau all der Utensilien fand, die Bertelmann in einem Flügel verbastelt hatte. Tatsächlich tobender Applaus war dem aufrichtig überwältigten Pianisten gewiss.

Weiter ging es ein paar Schritte die Altstadt hinab im Venus Club. Der ansonsten vor allem für Mainstream-Bums-Partys genutzte Club ist in diesem Jahr erstmals offizielles TMW-Venues und bekam zum Debüt ein überraschungsreiches Programm spendiert: Mit der Popsängerin LEPATRIINU („Schmetterling“), dem polnischen Atmo-Wave-Pop-Duo COALS und dem ungarischen Soul-Rock-Sextett BLAHALOUISIANA war die Bühne auf dem Mainfloor so bunt wie begeisternd begabt und technisch versiert bespielt. Dass die Damen an der Bar teilweise im an und für sich denkbar geschmacklosen Häschenkostüm unterwegs waren, trug dabei eher noch zum Festival-Charakter im besten Wortsinn bei.

Nicht genug: Zu später Stunde konnten wir im Sinilind erst die slowenische Rave-Pop-Combo KARMAKOMA (HAPPY MONDAYS-Referenzen galore!) sehen, ehe es Zeit war für die Künstlerin, die uns im Vorfeld am lautesten aus der Schedule angelacht hatte: Man bringt am besten seine ganze Fantasie auf, um sich die Finnin VENIOR, verpackt in ein Fashion-Wunder von Bühnenoutfit, bemalt in Neon und silbernem Glitzerstaub, als eine Kombination von BJÖRK, MISSY ELLIOTT, M.I.A., SIA und JAMIROQUAI vorzustellen – also in etwa als das Beste und Gewagteste, was die Popmusik so zusammenbekommt. Get ur freak on!

Samstag | 01.04. | Finale

Wir brauchen noch ein bisschen, bis wir uns vom großen Abschluss-Rave im zur Tech-Club umfunktionierten Bahnhofshalle Balti Jaam zu erholen und uns zu sammeln. Ein Foto vor dem Exzess haben wir aber bereits (siehe oben)…

www.tmw.ee

FacebooktwitterpinterestlinkedintumblrmailFacebooktwitterpinterestlinkedintumblrmail