ARCADE FIRE – The Suburbs


Ruinen der Erinnerung.



Zu einer der wichtigsten Erkenntnisse des schreibenden Ich gehört das Wissen der eigenen Fehlbarkeit. Das Risiko, in diese einzutreten, wird größer, je höher die Erwartung ist. Bewusst wird einem diese Fehlbarkeit verstärkt, wenn man sich nach Befassen mit dem zu beschreibenden Gegenstand, in diesem Fall das dritte Album der Kanadier von ARCADE FIRE, The Suburbs, an ein Werk eines bedeutsamen Romanciers erinnert fühlt, der all die Gedanken, die einen beschleichen, schon viel besser ausgedrückt zu haben scheint.

„Aber wenn von einer lang zurückliegenden Vergangenheit nichts mehr übrig ist, nach dem Tode der lebendigen Wesen, nach der Zerstörung der Dinge, verweilen ganz alleine, viel fragiler, aber lebenskräftiger, immaterieller, ausdauernder, treuer, der Geruch und der Geschmack noch lange Zeit, wie Seelen, entsinnen sich, warten, hoffen, auf den Ruinen von allem übrigen, und tragen, ohne zu wanken, auf ihren kaum wahrnehmbaren Papillen den ungeheuren Bau der Erinnerung.“
Mit seiner „Suche nach der verlorenen Zeit“ schuf Marcel Proust ein Werk der Erinnerung, und auf diesem Grund liegen auch die Suburbs von ARCADE FIRE. Die Band begibt sich mit ihrem dritten Studioalbum auf eine Suche, zu offenbaren, was sich in den Konstruktionen ihrer Gedächtnis-Vorstätte befindet.

Es gibt zunächst jedoch eine Komponente im Phänomen ARCADE FIRE, die der französische Autor nicht beschreiben konnte. Es ist die Musik. Einst war diese opulent und tragisch, Win Butler, Régine Chassagne und ihre zahlreichen Mitstreiter formulierten im Heer der Instrumente ihre Verzweiflung ob der Einsamkeit, sei diese begründet durch den eigenen Umkreis oder die Gesellschaft. Bei ihrem Nachfolgewerk zu Neon Bible nun erscheint das Werk einheitlicher, funktionierend im Gesamtzusammenhang. Immer noch illustrativ ist die Musik inzwischen weniger tragisch. So befindet sich mittig gar die Überraschung eines geradlinigen Rockstückes. Auch auf The Suburbs tritt wieder etwas auf, was man vielleicht als die „typischen“ ARCADE FIRE-Spannungsbögen bezeichnen könnte; diese bewirken mit ihrer musikalischen Schönheit eine simulierte Teilhabe, Anteil an Resignation, Anteil an Hoffnung: Anteil am Gefühl, etwas „Großem“ beizuwohnen. ARCADE FIREs Orchestralia offenbart dabei wenn schon Pathos (im positivsten Sinne), diesen stark reduziert.

Wichtig und zusammengehörend mit der Musik bleibt immer noch ein zweiter wichtiger Punkt bei der Gruppe aus Montreal. ARCADE FIRE und das Konzept, die Lyrik. In diesem Fall: ARCADE FIRE und der Kulturpessimismus. Oder, schöner ausgedrückt: ARCADE FIRE und das Gedächtnis.

„Oh, this city’s changed so much/ Since I was a little child/ Pray to god I won’t live to see/ The death of everything that’s wild/ Though we knew this day would come/ Still it took us by surprise/ In this town where I was born/ I now see through a dead man’s eyes/ One day they will see it’s long gone.“

Was bleibt übrig nach der persönlichen, gesellschaftlichen und technischen Emanzipation? Im Versuch, diese Frage zu beantworten, fügen ARCADE FIRE die Vergangenheit in die Gegenwart und bringen sich jene Seelenjahre ins Gedächtnis, die sie im Kindesalter in der Vorstadt prägten. Ihre Erinnerung lebt auf in Eindrücken von Kindern und ihrem Krieg, Gebäuden, Straßen und sie stellen fest: Die Wirklichkeit, die man kannte, gibt es nicht mehr. Irgendwo zwischen Gegenwart und Vergangenheit ging die Identität verloren, und die Tristesse einer Vorstadt ist jedem sinngebenden Lebenselement gewichen.

„Die Stätten, die wir gekannt haben, sind nicht nur der Welt des Raums zugehörig, in der wir sie uns denken, weil es bequemer für uns ist. Sie waren nur ein schmaler Ausschnitt aus den einzelnen Eindrücken, die unser Leben von damals bildeten; die Erinnerung an ein bestimmtes Bild ist nur wehmutsvolles Gedenken an einen bestimmten Augenblick; und die Häuser, Straßen, Avenuen sind flüchtig, ach!“

Wehmutsvolles Gedenken, und so liegt in dem etwas reduzierten Heer von Instrumenten gleichzeitig die Beschwörung einer Wolke, eines vergangenen Gefühls, das einst ganze Tage verzaubern konnte und inzwischen jeder Bedeutsamkeit entbehrt. Zum Beispiel der Liebesbrief und was alles damit zusammenhing: Warten, Unsicherheit und vor allem Vorfreude, die eigentlich einen Großteil der Freude an sich ausmacht, oder sie zumindest stark potenziert.

ARCADE FIRE bedeutete immer ein Bedauern, diffuse Angst und Einsamkeit, gleichzeitig aber auch Aufbruchstimmung oder der leise Hauch einer Zukunftseuphorie. Was nun übrig bleibt, ist der Lebensüberdruss, und nicht umsonst wird dem beschwingten Opener ‚The Suburbs‘ am Ende des Albums sein Gegenstück in langsamen, trägen Instrumentenschlieren entgegengesetzt. „If I could have it back/ All the time that we wasted/ I’d only waste it again.“

Marcel Proust sprach auch vom Kunstwerk als dem einzigen Mittel, mit dem die verlorene Zeit wiedergewonnen werden kann. Eine ästhetische Gegenwelt als Rettungsanker sozusagen, den man an dieser Stelle auch gerne den Musikern von ARCADE FIRE zuwerfen möchte, um Ihnen gleichzeitig zu beteuern: The Suburbs ist ein solches Kunstwerk.

ARCADE FIRE am 31.08.2010 live in Berlin/ Tempodrom

ARCADE FIRE
The Suburbs
(City Slang/ Universal)
VÖ: 30.07.2010

http://www.arcadefire.com
http://www.myspace.com/arcadefireofficial
www.cityslang.com

Autor: [EMAIL=lisa.forster@popmonitor.de?Subject=Kontakt von der Website]Lisa Forster[/EMAIL]

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