Anlässlich seines zehnjährigen Jubiläums hatte das BALTIC SEA PHILHARMONIC im vergangenen Jahr mit „Nordic Pulse“ ein Programm aufgelegt, mit dem das aus Musiker*innen aus zehn nordischen Ländern zusammengesetzte Orchester seinen Wurzeln huldigte. Da ist es nur schlüssig, dass es nun auch bei eben diesen seine Aufführung findet: in den Ländern entlang der Ostsee, von Litauen über Estland und Finnland bis nach Russland, wo die Tour in Sankt Petersburg endet.
Die Natur des Nordens ist denn auch wesentliche Inspirationsquelle des Programms. So versteht sich etwa Aurora von Dirigent KRISTJAN JÄRVI als eine zeitlose Aufnahme der Schönheit der Aurora borealis. Zudem arbeitet das BALTIC SEA PHILHARMONIC während der diesjährigen „Nordic Pulse“-Tour erstmals mit MICK PEDAJA zusammen. Auch die Musik des estnischen Sängers und Liedermachers ist stark von der Natur inspiriert. Die gemeinsame Performance eröffnet die Abende, ehe der Schweizer Geiger DAVID NEBEL mit Järvi und dem Orchester das meditative zweite Violinkonzert von Pēteris Vasks „Vientuļais Eņģelis“ (Einsamer Engel) und ein kraftvolles Violinkonzert von Gediminas Gelgotas aufführt. Das Programm endet mit einem freien Vortrag von Järvis Arrangement aus Tschaikowskys Ballett „Dornröschen“.
Wie sich das Programm auf den Bühnen der von Alvar Aalto entworfenen Finlandia Hall in Helsinki und im weltbekannten Mariinsky-Theaters in Sankt Petersburg gestaltet und was um die Aufführungen herum noch passiert, verfolgen wir in diesem Ticker …
Mick Pedaja | Foto: Baltic Sea Philharmonic / Peter Adamik
Erster Teil | Sonntag, 17. März
Der Matsch verwandelt sich gerade in Schnee, als wir in Helsinki ankommen. Die Finlandia Hall ist noch geschlossen, doch hinter den Türen tut sich was. Das Orchester, am Morgen mit der Fähre aus Tallinn übergesetzt, lässt sich zwar noch nicht blicken, aber MICK PEDAJA bastelt an den Einstellungen seines Keyboards herum. Hallo hier, wir sehen uns später da. Der Mann ist müde: Nach dem Auftritt am Vorabend war er noch nach Tartu weitergezogen, um mit einer anderen Formation einen weiteren Gig zu spielen. Man lebt nur zweimal.
Pedaja spielt eine zentrale Rolle im Programm von „Nordic Pulse“, auch wenn es gerade das Zentrum ist, das er freigibt: Die introspektiv zeitvergessenen Kompositionen „Forest Hymn“ und „Follow“ eröffnen den Abend, der hier und heute ein Nachmittag ist. Zur Matinee ist die geräumige Finlandia Hall vernünftig gefüllt, doch ein Hauch von Katerstimmung macht sich in der unmittelbar davor eingebuchten Probe breit. „Das müsste ich gar nicht erklären müssen – dazu hab ich längst alles gesagt“, weist KRISTJÄN JÄRVI sein Orchester zurecht. Es soll an diesem Tag die einzige Spitze bleiben: Der Este scheint vor Energie förmlich zu bersten, springt, tanzt und gestikuliert wie ein enfesselter Fan, der nach einer Flasche Wein zu seinen Idolen auf die Bühne darf. Gewissermaßen stimmt das: Mit dem DAVID NEBEL tritt ihm ein junger Star an die Seite, der insbesondere in den enormen cineastischen Spannungsbögen und der emotionalen Ambivalenz des Geigenkonzerts „Gediminas Gelgotas“ das emotionale Potenzial seines Spiele ausreizen darf und kann.
Danach hat Pedaja seinen zweiten großen Moment. Um die Aufführung von Järvis „Aurora“ herum, 2018 für das Debüt von „Nordic Pulse“ als aufgeputschtes, aufputschendes Stück Rockmusik mit dem Werkzeug der Klassik konzipiert, haben zwei weitere seiner Stücke ihren Platz in dem als fließende Bewegung entwickelten Programm gefunden: Das behutsame „Seis“ fungiert gewissermaßen als Intro, ehe Pedaja mit „Valgeks“ seine zarte Stimme in ein fulminantes finales Crescendo fließen lässt, wie es Jónsi Birgisson nicht besser hinbekäme. Auf dieser euphorischen Note endet der erste Teil.
Kristjan Järvi | Foto: Baltic Sea Philharmonic / Peter Adamik
Intermission | Montag, 18. März
Helsinki kennt auch an diesem Morgen keine Farben. Ein guter Grund mehr für bunte Musik in jungen Herzen. In der Sibelius Academy, keinen Kilometer von der Finlandia Hall gelegen, hält das BALTIC SEA PHILHARMONIC Auditions ab. Anders als im sonst gern grundsteifen Klassikbetrieb gibt es hier keine Fronten, kein Ja oder Nein, zumindest nicht gleich.
„Den traditionellen Bewerbungsprozess – nun ja, den finden wir nicht gut. Darum haben wir ihn umgedreht,“ moderiert Järvi, an diesem frühen Morgen verblüffend gut gelaunt, das Ganze an. Im Anschluss hält er sich aber weitestgehend zurück und überlässt seinen Principals die Führung – erfahrenen BSP-Musiker*innen aus den unterschiedlichen Instrumentgruppen. Die sind von Anfang an bemüht, den Druck aus der Situation zu nehmen, treten aber auch schon mal unangemeldet zur spontanen Impro zu den Kandidat*innen. Wo technische Fertigkeit zu diesem Zeitpunkt womöglich nicht die erste Geige spielt, sind Beweglichkeit und ein bisschen Mut gefragt.
Der erste, der sich heute traut, ist ein Percussionist an der Snare Drum. Der junge Musiker wirkt schüchtern, zögert aber nur kurz, als er sich plötzlich in einer Quartett-Besetzung mit Händels Sarabande konfrontiert sieht. Im Zug nach Sankt Petersburg später am Tag werden sich die Principals quasi durch die Bank für den Musiker einsetzen. „Man kann die Energie eines Menschen sehr schnell spüren“, erzählt Järvi dort. „Doch wir wollen nicht das Buch nach dem Einband beurteilen, keine voreiligen Schlüsse ziehen. Wir wollen es aufschlagen. So können nicht nur wir etwas über die Bewerber erfahren – sondern diese auch etwas über sich selbst. Genau darum geht es uns bei den Auditions.“
Ein umfassenderes Interview mit KRISTJAN JÄRVI veröffentlichen wir bald.
Baltic Sea Philharmonic | Foto: Baltic Sea Philharmonic / Peter Adamik
Zweiter Teil | Dienstag, 19. März
Den Glanzmomenten der Solisten im ersten Teil setzt der zweite die ganze Größe des Orchesters entgegen – ein zweites, ganz anderes Konzert beginnt. Das BALTIC SEA PHILHARMONIC hat sich seinen Namen nicht zuletzt damit gemacht, Stücke komplett aus dem Gedächtnis zu spielen. Kraft des Herzens, wie es im Englischen so schön heißt. Und es braucht ein großes Herz heute: Järvis Arrangement von Tschaikowskis „Dornröschen“, entstanden in Monaten metikulöser Detailarbeit, verdichtet und verjüngt das kolossale Ballett zugleich, räumt darin auf und gibt ihm so neue, frische Rasanz und Dringlichkeit – 70 Minuten bleiben es dennoch.
Ihre Energie und Agilität gewinnt die Performance dabei nicht nur, weil sich niemand am Blatt orientieren kann, sondern auch, weil die Bühne entrumpelt wurde: Bis auf die Cellisten stehen die Musiker*innen jetzt, neu gruppiert und noch dichter beieinander. Aber was heißt stehen: Das Stück tänzelt und stolziert, schwingt und groovt, büchst aus und fängt sich wieder ein. Und das Orchester mit ihm. Das ist Spielfreude im besten Sinn, mit neuer Betonung und von einer Unmittelbarkeit, die niemanden im Saal kalt lässt. Überhaupt der Saal: Das Mariinski II, die Contemporary-Erweiterung der Grande Dame unter Sankt Petersburgs Opern- und Balletthäusern, bietet den kongenialen Raum für ein Programm, das einerseits die Kontinuität von Energie über die Zeiten hinweg, andererseits den schieren Spaß am Neudenken, am Neumachen klassischer Musik feiert. Manch einer reibt sich sehr an diesem Begriff und vielleicht, doch: sicherlich ist gerade das das Gute an ihm: Auch das ist Neoklassik.