Bergen International Festival 2024 – Der komplette Ticker

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POPTRAVEL. Unter diesem Namen berichten wir in unregelmäßigen Abständen vermehrt von unterwegs: Porträts, Interviews, Konzert- und Festivalberichte im berühmten Blick über den Tellerrand. Nach 2017 – einem Jahr, das heute wie aus einer anderen Zeitrechnung wirkt – finden wir uns dieser Tage zum zweiten Mal in Bergen in Norwegen wieder …

Die 72. Ausgabe des Bergen International Festival läuft bereits seit vergangenem Mittwoch, eröffnet mit einem stolzen Festakt auf dem Torgallmenningen-Platz (ein Video – ohne Untertitel, aber mit viel Musik – kann man sich hier ansehen). Bis wir am morgigen Donnerstag mit unserem Ticker vor Ort beginnen, geht es hier schon mal zum kompletten Programm …

Donnerstag, 30. Mai

… und da sind wir! In der Altstadt von Bergen, die bunten Häuschen pittoresk gruppiert um den Hafen, dem „Tor zu den Fjorden“, wie man stolz sagt, hat sich das Festivalfieber schon breitgemacht. Herzstück dabei ist der zentrale Platz Torgallmenningen, der schon im letzten und (gesichert) auch noch im nächsten Jahr zum „Festivalplatz“ umfunktioniert wird. Es gibt eine große Bühne, bunte Sitzgelegenheiten und genug Platz zum Gucken und Tanzen. Gerade steht die Präsentation einer Hip-Hop-Modenschau auf dem Programm, die Styles sind am Morgen in einem Workshop entstanden.

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Wenig später finden wir uns schon in der Grieghalle wieder. Der wichtigste Konzertsaal der Stadt, Baujahr 1978, kontrastiert den schroffen Brutalismus seiner Betonfassade mit einer feingliedrigen Akustik im rot ausgekleideten Hauptsaal, die viel Raum für auch zarte Details. Und Kontraste wie Filigranität stehen denn auch heute auf dem Programm: Die renommierten Pianisten LEIF OVE ANDSNES und BERTRAND CHAMAYOU stellen Franz Schuberts Duetten für vier Hände aus dem Jahr 1828 kurze, teils sperrige, unaufgelöste, teils hinreißend klare Kompositionenaus der Játékok-Reihe des Komponisten GYÖRGY KURTÁG gegenüber. Pop ist das freilich nicht – aber morgen ist ja auch noch ein Tag …

Freitag, 31. Mai

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Nach einer atemberaubenden Kreuzfahrt durch den Osterfjord ist es auch schon 17 Uhr und Zeit fürs Abendprogramm. Für den Auftakt haben wir uns das gemeinsame Konzert von YARN/WIRE und JACK QUARTET in der Håkonshalle ausgesucht. Das imposante Gebäude im Königshof aus dem 13. Jahrhundert bildet einen absurd festlichen Rahmen für den vergnüglichen Dekonstruktivismus der Kompositionen von Misato Mochizuki, Morton Feldman, Ruth Crawford Seeger sowie dem offiziellen Festival-Komponisten ØYVIND TORVUND.

Die beiden Quartette, YARN/WIRE an Piano und Percussion, JACK QUARTET in klassischer Streicherbesetzung, lassen es so lustvoll klingeln, kratzen und krachen, sägen und scheppern, dass man sich zumindest ein leises Lachen gar nicht erst verkneifen will. Und wenn in den stillen Momenten, etwa während Feldmans eigentlich nervenzerreißendem „Structures“, das Adrenalingebrüll vom Vergnügungspark direkt vor den Toren der Festung in den Raum drängt, scheint das fast Programm. Horror und Humor Hand in Hand.

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Ernst wird es danach in der Kunsthall, Bergens direkt am See Lille Lungegårdsvannet gelegenen Museum für kontemporäre Kunst. JOSHUA INYANG und JOSHUA REID alias SPACE AFRIKA setzten komplett auf Überwältigung. Im Sound des Duos aus Manchester vereinen sich Trip-Hop, Drum’n’Bass, Electronica, Spoken Words und Video-Cuts zu einem hypnotischen Drone-Gewitter. Statt mit voller Konzentration wie zuvor begegnet man am besten mit Selbstaufgabe, während man sich vom Trockeneisnebel verschlingen lässt. Wowwwwwwwzzzzz.

Für eine Pointe aber ist der Abend noch gut: TUVA SYVERTSEN (Sängerin der VALKYRIEN ALLSTARS) verwandelt mit ihrem „Blodklubb“, einer eigentlich in der Hauptstadt Oslo beheimateten Folk-Music-Partyreihe, das Kulturhuset i Bergen in ein aberwitziges jodelndes, maultrommelndes Tohuwabohu. Zeit fürs Bett!

Samstag, 1. Juni

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Heute zieht es uns wieder in die Grieghalle. Am frühen Nachmittag ist im Foyer des Hauptgebäudes schon eine Probe für den Abend zu hören, doch zunächst geht es in den deutlich kleineren Klokkeklang-Saal auf der anderen Seite des Gebäudes. Vorbei an den Türmen von „Pappelonia“ – im Foyer basteln Kids und Eltern mit einer Welt aus Karton von Wand zu Wand den Raum zu – geht es ins Untergeschoss, wo YARN/WIRE schon wieder an verrückten Sounds schrauben und sich so für den Soundtrack aufwärmen, den sie wenige Minuten später zum vornehmlich an Kinder gerichteten Theaterstück „The Sound Of The Forest“ live spielen. Neben das Konzert am Vorabend gelegt, macht der fröhlich bunte Auftritt, der auf eine Idee des Quartetts selbst zurückgeht und für den ebenfalls ØYVIND TORVUND die Musik geschrieben hat, eines klar: Kontext weiß dem Spaß am Spiel keine Grenzen zu setzen.

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Am Abend ist es Zeit fürs große Finale. Denn auch wenn das Festival noch die kommende Woche über läuft, heißt es für uns bald Abschied nehmen aus Bergen. Für den Schluss haben wir uns für ein Doppel entschieden, neuerlich in den Grieghallen. Los geht es mit der kubanischen Ballettkompagnie ACOSTA DANZA. In fünf Choreographien von insgesamt beinahe zwei Stunden tanzt sich die Troupe des früheren Startänzers CARLOS ACOSTA in und durch einen farbenfrohen Rausch. Inspiriert und immer wieder überraschend treffen darin Rumba und Salsa auf Ballett und Club, schärft ausgelassene Party Momente intimer Sinnlichkeit. Gerade nach den oft herausfordernden, bewusst verqueren Konzerten der vergangenen zwei Tage ist es so besänftigend wie befreiend, einer Performance beizuwohnen, die sich ganz der Ästhetik des Wunderschönen verschrieben zu haben scheint.

Die kongeniale Fortsetzung findet der Abend im Peer-Gynt-Saal ums Eck, wo FATOUMATA DIAWARA bereits auf der Bühne steht. Es geht hinein in einen Moment des Schocks: Die aus Mali stammende Künstlerin erzählt davon, wie sie Opfer einer Genitalverstümmelung wurde und an den Folgen beinahe gestorben ist. Wie sich daraus in den nächsten Minuten und über die folgende gute Stunde hinweg ein zunehmend hoffnungsvoller Appell für Versöhnung und Liebe formuliert, in einem wilden Jam um die immer wieder fast einem Derwisch gleichend kreiselnde Musikerin herum, die in immer wieder neuem Kopfschmuck zu sehen ist und es zudem offensichtlich liebt, Publikum zum gemeinsamen Tanz auf die Bühne holt – das ist ein wahres Fest der vereinenden Kraft von Musik. Einen besseren Schluss, zugleich Höhepunkt und Coda, hätten wir uns für unsere Zeit in Bergen nicht vorstellen können.

Homepage des Bergen International Festival

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