Lange vor Metoo – 22 Jahre Woodstock III

300-600 Gruppenvergewaltigungen gibt es pro Jahr in Deutschland. Etwa die Hälfte davon wird von weißen jungen Männern verübt. Wer die Silvesternacht 2015 in Köln schrecklich fand, der höre sich den Podcast Break Stuff von 2019 oder sehe sich die HBO-Doku Woodstock ’99: Peace, Love, and Rage vom Juli 2021 an. Sie zeigen die Vorgänge bei der zweiten Neuauflage des berühmten Woodstock-Festivals von 1969 vom 22. bis 25. Juli 1999. Bevor in der weiteren HBO-Doku Jagged die traurige Vergangenheit von ALANIS MORISSETTE aufgerollt wird, wurde hier schon ein Schlaglicht auf die Rape-Culture der 1990er geworfen.

Woodstock III zeigte vor über 200.000 Menschen mehrere Crossover-Bands auf dem Zenit ihres Schaffens und endete in gewalttätigen Ausschreitungen. Temperaturen von 38 Grad auf einem Beton-Flughafen, hemmungslos überteuertes Wasser und Essen, katastrophale Hygiene-Bedingungen und aggressivste Musik machten das Publikum wütend. Dieses bestand hauptsächlich aus jungen, weißen Männern.

Die sexualisierte Bedrohung von Frauen herrschte hier laut Augenzeuginnen von Anfang an. Sexualisierte Belästigung war an der Tagesordnung. Bei den Slots von LIMP BIZKIT und KORN wurden Frauen direkt im Publikum vergewaltigt. Weitere Gruppenvergewaltigungen fanden im Festival-Gelände statt.

Nach Verwüstungen, Plünderungen und Brandschatzungen am Ende des Festivals suchten Medien vielfach die Schuld bei den Bands, besonders bei LIMP BIZKIT. Die Gewalt wurde als Aufstand der Unterschicht oder der Generation X verstanden. Hatte nicht FRED DURST bei „Break Stuff“ gerufen, man müsse gegen Gender-, Eltern-, Boss- und Job-Probleme doch mal richtig ausrasten? Im Song „My Generation“ von 2000 versuchte er sich und die Generation X zu verteidigen. 2019 gab er im Interview den Schwarzen Peter an die Verantwortlichen des schlecht organisierten Festivals weiter.

Live-DVD „The Offspring: Woodstock USA 1999“

Tatsächlich gab es aber eine permanente Spiegelung von Bands und Fans in Agressivität, Modestil und Verhalten. Der Sänger von THE OFFSPRING, BRIAN „DEXTER“ HOLLAND, verprügelte BACKSTREET BOYS-Puppen mit einem Gummischläger, RAGE AGAINST THE MACHINE verbrannten eine USA-Flagge und der nackte RED HOT CHILI PEPPERS-Bassist, MICHAEL „FLEA“ BALZARY, spielte mit seiner Band das JIMI HENDRIX-Cover „Fire“, was wie ein Startsignal für die Brände wirkte. Zum Anzünden wurden Kerzen benutzt, die eine Anti-Waffen-Gruppe verteilt hatte, die an die Columbine-Opfer erinnern wollte.

Diese Selbstermächtigung von Künstlern und Publikum hätte durchaus auch politisch genutzt werden können. Die Songs handelten ja auch von Rassismus, vom Gefangensein in neoliberaler Arbeitsmoral und Konsumismus, doch sie verblieben vollkommen auf der individuellen Ebene. Bei dem scheinbaren Einverständnis von Bands und Fans wirkte dann wohl der psychologische Effekt des Narzissmus. Psychoanalytisch gesprochen, wurden die Bands zu Figuren des „Urvaters“, der seinen Söhnen alles erlaubt. Es gäbe keine Regeln, rief Fred Durst.

Live-CD „Woodstock ’99“

Diese grenzenlose Freiheit galt jedoch nicht für Frauen. Im damaligen Jubel darüber, wie tolerant doch die postmoderne Crossover-Rock-Kultur gegenüber Schwarzen war, ging unter, wie sexistisch sie doch war. Hunderte junge Frauen folgten dem Revival-Thema des Festivals im Bikini, Ober- und sogar Unterkörper-frei, was dann von Männern zum Victim-Blaming benutzt wurde. Doch Woodstock ’99 war kein Hippie-Event. Es war ein kommerzielles und inhaltlich sinnentleertes Großkonzert. Inzwischen war doch die „sexuelle Revolution“ geschehen, die aus der Forderung nach „freier Liebe“ den Anspruch sexueller Verfügbarkeit gemacht hatte. Die Frauen trafen auf pornografisierte Männer, für die sie keineswegs gleichberechtigt waren. Korn machten etwa in einem Song („A.D.I.D.A.S“) aus dem Markennamen „Adidas“ eine Abkürzung für „All day I dream about sex“ und Fred Durst nannte das männliche Publikum permanent „Motherfucker“. Während Korn in die Brüste-Bejubelung einstimmten, kritisierte Holland die Begrabschungen.

Es ist zudem keinesfalls ein Zufall, dass nur drei weibliche Acts (JEWEL, SHERYL CROWE und Morrissette, über die sich Durst lustig machte) beim Festival auftraten. Keine davon gehörte der Crossover-Bewegung an und sie kamen auch nicht aus den Grunge- oder Funpunk-Szenen, die beim Woodstock ’94 noch dominiert hatten und von denen jetzt nur noch wenige wie BUSH und The Offspring übrig waren. Von Woodstock III führte der Weg der Jugend direkt weg vom Rock hin zum Hiphop.

Um derlei Katastrophen in Zukunft zu verhindern und Wut in politische Bahnen zu lenken, ein paar Vorschläge:
– Songtexte, die das individuelle Unwohlsein mit den gesellschaftlichen Missständen verknüpfen, um Veränderung ins Auge zu fassen
– kein kommerzieller Nihilismus stattdessen DIY bei Festivals
– nützliche Politisierungen wie hier durch die Anti-Waffen-Gruppe unterstützen, nur bitte keine potentiellen Waffen verteilen
– Frauen in die Musiker- und Fanszenen integrieren
– Feminismus muss sich von der akademischen Mittelschicht lösen und braucht Organisationen in der Unterschicht. Sonst bleibt er verhasstes Establishment.
– Unterstützung von politischen, frauenfreundlichen Bands

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