Le Guess Who? Festival 2016 | Utrecht

Das Le Guess Who?-Festival hat dieses Jahr vom 10. bis 13. November sein zehnjähriges Jubiläum gefeiert. Jedes Jahr im November laden die VeranstalterInnen dazu ein, ein großartiges Line-Up aus Folk-, Indie-, Experimental- und Electronic-KünstlerInnen zu genießen. Durch die sorgfältige Kombination aus kultigen Acts, die manchmal jahrzehntelang nicht mehr aufgetreten sind, und spannenden Neuentdeckungen wurde das Guess Who zu einer Institution, deren musikalischer Auswahl man blind vertrauen kann.

Es beginnt ganz ruhig. Zwei Gitarristen und ein Bassist lassen einzelne Töne verhallen, der „Pandora“-Saal ist schon gut gefüllt. Auch die Besucher sind ganz still. Es ist der erste Abend des „Guess Who-Festivals“ und die Leute finden sich langsam im „Tivoli Vredenburg“ ein, dem riesigen Konzertzentrum mit fünf verschiedenen Sälen, gefühlt 20 Stockwerken und immer neu zu entdeckenden Winkeln. Überall hängen liebevoll gestaltete Konzertposter, es gibt Schallplatten zu kaufen, Bier und Hotdogs.

Noch muss man sich nicht auf einem der riesigen Sitzkissen ausruhen. Man geht zum New Yorker-Musiker STEVE GUNN, der gemeinsam mit seiner Band gerade langsam in das einsteigt, was er am besten kann: Sorgsam ausdifferenzierte, folkige Rockmelodien. STEVE GUNNS präzis gezupfte Gitarren falten sich immer wieder in mitreißenden Melodien auf, er schreibt klassische, dabei fast nie langweilige Rocksongs. Der Band dabei zuzusehen, wie sie in Songs wie „Way Out Weather“ oder „Ancient Jules“ ihre einzelnen Parts aufeinander abstimmt, ist ein ziemlich guter Start in das Festival.

Plötzlich setzt Gunn, der sich ansonsten eher dem introspektiven Gitarrenspiel widmet, zu einer deprimierenden Rede an: Sie alle seien traurig, gerade nicht bei ihren Familien in den USA sein zu können – angesichts von Trumps schrecklichem Wahlsieg in den USA. „Doch wir müssen weiterkämpfen, und unser Auftritt hier ist ein Weg, das zu tun“, schließt er.

Kurz darauf spielt bereits der erste Headliner: WILCO haben nicht nur einen eigenen Auftritt, sondern auch eine Konzertreihe auf dem Festival mit Bands wie DEERHOOF, FENNESZ oder ARNOLD DREYBLATT kuratiert. Beim Eintritt in den Saal erschallt das inzwischen 14 Jahre alte, unfassbar schön melancholische „I am Trying to Break Your Heart“. Zum Glück spielen WILCO nicht nur Songs ihres aktuellen, leider etwas öden Albums „Schmilco“. An Tracks wie dem 2011 erschienenen „Art of Almost“ zeigt sich, was für einen kreativen Zugang die sechs Bühnenmusiker zu ihren Instrumenten haben: Das Lied zerfranst sich in eine großformatige, jazzige Rock-Jamsession, die auch aus geschätzten 50 Meter Entfernung noch Spaß macht.

Im Vergleich zu DIE NERVEN würden dann wahrscheinlich nicht nur WILCO etwas träge erscheinen. Die Band ist eine der wenigen, deren Musik durch die deutschen Titel noch besser wird. Was könnte besser sein, als über gewitterstürmige Gitarren, krachscheppernde Drums und einen bedrohlichen Basslauf zu singen: „inmitten der Leere / hinter Raststätten versteckt / deine Stimme die wie Teer die Straßen bedeckt / ich gehe barfuß durch die Scherben ohne mich zu verletzen.“ Den Schluss des Konzerts bildet „Morgen breche ich aus“. Eigentlich einer der ruhigeren Tracks, wird er beim Auftritt zum apokalyptischen Finale – fast endlos verharren Schlagzeuger und Bassist in spannungsgeladenen, repetitiven Takten, während der Sänger Max Rieger traumwandlerisch den Nebeldunst mit seinen Händen nachzeichnet. Als man schon gar nicht mehr damit rechnet, entlädt sich alles in ohrenbetäubendem, großartigen Lärm: „Du drehst dich im Kreis / dir wird schwindelig.“

Damit haben DIE NERVEN perfekt vorbereitet, was jetzt kommt: GIRL BAND aus Dublin. Noch ein bisschen wahnsinniger, noch mehr Gitarrenschreddereien, noch mehr genialer Krach. Man muss einfach festhalten, dass Dara Kiely, der Sänger, singt und aussieht wie Kurt Cobain. GIRL BAND klingen wie die frühen Nirvana und sind es vermutlich leid, mit ihnen verglichen zu werden. In Songs wie „In Plastic“ liegen geniale Melodien, die Kiely absichtlich schief herausschreit: Der Reiz liegt gerade darin, sie aus ihrer Dissonanz zu schälen, um sie später wieder in Lärm untergehen zu lassen.

Der nächste Tag beginnt mit einem ziemlich guten Auftritt von Geoff Barrows (Portishead) anderer Band BEAK. Weil alle Verstärker mit einem tiefen Nebelhall belegt sind, macht sich Barrows einen Spaß daraus, irgendwelche Dinge ins Mikro zu sagen, die niemand versteht. Etwas gefälliger ist dann die Musik: Schöne, hypnotische Krautrockstücke mit repetitiven Drums. Die Leute wippen, es braucht nicht mehr viel, und sie tanzen.

Das geschieht spätestens beim Auftritt der SAVAGES. Der „Rondo“-Saal ist voll bis obenhin, als die vier Londonerinnen ihr Konzert mit „I am here“ eröffnen. „Are you coming for the ride” singt die Sängerin Jehnny Beth mit konzentriertem, direktem Blick ins Publikum und zertrümmert damit nicht nur verbal die Ebene zwischen Bühne und Zuschauerraum. Eingebaute Sätze wie „I wanna see your face“ in das ebenfalls vom ersten Album stammende Lied „Husbands“ untermauern diese direkte Auseinandersetzung mit dem Publikum. Und so es ist nur passend, dass Beth bei „The Answer“ völlig unvermittelt ins Publikum springt. Neben den vielen harten, schnellen, vom Rhythmus getriebenen Stücken, die eine Stagediverin nach der anderen die Bühne stürmen lassen, spielen die Vier auch neue, ruhige Lieder wie „Mechanics“ und „Adore“, die tatsächlich einen Hauch von Melodie aufkommen lassen. Mit dem Lied „Fuckers“ verabschiedet sich das Quartett schließlich, aber nicht ohne ein politisches Statement vorweg: „This has been a fucking hard week“. Ob sie damit auf den Tod von Leonard Cohen oder die US-Präsidentschaftswahl anspielen möchte, lassen sie offen. Die Botschaft allerdings ist eindeutig: „Don’t let the fuckers bring you down.“

Das erste Konzert im Tivoli am frühe Samstagabend beginnt mit viel Whisky, verspielten Gitarren und einem unterhaltsamen RYLEY WALKER. Utrecht sei seine Lieblingsstadt, eigentlich sogar sein liebster Ort auf der Welt, lässt er gleich zu Beginn übermütig verlauten. Hier in den Niederlanden auf einer Insel habe er viele Songs geschrieben. Wo genau diese Insel ist und ob hier auch einige Lieder von dem gerade erst erschienenen Album „Golden Sings That Have Been Sung“ entstanden, verrät er nicht. Eigentlich ist das auch egal, denn die Jungs aus Chicago spielen und trinken als sei es mitten in der Nacht – mit vielen instrumentalen, verschnörkelten Gitarren-Passagen.

Das Highlight dieses Festivals kommt ebenfalls aus Chicago, und vermutlich ist es angesichts der vielen alten und ehrwürdigen Künstler, die das „Guess Who“ bereichern, anmaßend, gerade eine junge Indierock-Band als solches zu küren. Nichtsdestotrotz haben WHITNEY auf der Bühne eine Präsenz, die an diesem Wochenende ihresgleichen suchte. Die sechs Musiker, die da vorne auf der Bühne stehen, beherrschen ihre Gitarren, ihren Bass, ihre Trompete, die Drums und das Piano nicht nur unfassbar gut, sie haben es geschafft, ein Debutalbum voller Hits zu schreiben. Man denke nur an die herzzerreißend schöne Gitarrenmelodie aus „No Woman“, die sich im Refrain über den Klagegesang des Sängers Julien Ehrlich legt. Und dann kommt eine leise Rassel, und eine Geige, und die Trompete – alles so sparsam und punktgenau eingesetzt, dass jeder Takt sitzt. Das gleiche gilt für das Schlagzeugspiel von Ehrlich, es ist assoziativ, jazzig, dabei unglaublich präzise. Damit setzt Ehrlich einen genialen Kontrapunkt zu den eingängigen Melodien und vor allem auch zu seinem sehr hohen, sehr emotionalen Gesang. Obwohl alles zusammen so rund klingt, macht es aber genauso viel Spaß, den einzelnen Musikern zuzuhören: Sie definieren ihre Parts gekonnt und eigenständig, ohne, dass es zu überlangen Soli kommt. Zuletzt macht es ganz abgesehen vom Musikalischen auch Spaß, einfach nur den Geschichten Ehrlichs zuzuhören. Heute ist er etwas abgeschlagen, trinkt des Öfteren aus einer (einmal noch geschlossenen) Weinflasche und kommentiert die Lovesongs seiner Band mit trockenem Humor: „Are you standing next to the person you really love right now? Like, right in this moment? This song is for you. Because it’s about not being able to.“

Etwas enttäuschend war kurz vorher allerdings der Auftritt der Kanadier von BLACK MOUNTAIN. Vor rund 10 Jahren haben die ein schmissiges, wuchtiges Progrock-Debutalbum veröffentlicht. Druckvolle Stonerrock-Passagen, bei denen man nicht anders kann, als sofort mit dem Kopf mitzugehen. Dazu die rauchige Stimme von Stephen McBean und das hohe Vibrator von Amber Webbs, die sich beim Gesang abwechseln. Doch auf dem vierten Album wirkte das schon etwas glatt komponiert, und das überträgt sich auch auf die Bühne: Die Kratzigkeit ist weg.

Einen starken Eindruck hinterlässt hingegen die brasilianische Sängerin ELZA SOARES. Vermutlich ist sie um die 80 Jahre alt, sie hat jedenfalls ein beeindruckendes (Musikerinnen-)Leben hinter sich. Aufgewachsen in einer Favela in Rio de Janeiro, soll sie zunächst als Putzfrau gearbeitet haben, bevor sie mit 16 einen Gesangswettbewerb gewann und daraufhin über einige Umwege eine weltweit bekannte Sambasängerin wurde. Ihren Auftritt auf dem „Guess Who“ bestreitet sie auf einem Thron, zu ihren Füßen wurde außerdem eine überdimensionale Treppe konstruiert, auf der sich ihr Kostüm in meterlangen Schlangen drapiert. ELZA SOARES‘ Songs haben Kultstatus, was sich daran bemerkbar macht, dass viele Fans nur für ihren Auftritt auf das Festival gekommen sind. Sie erjubeln sich eine Zugabe nach der anderen, wodurch ihr Konzert weitaus länger wird als geplant.

Der Konzertsaal mit den gemütlichsten Sesseln ist das zwischen Rolltreppen und Fluren versteckt liegende „Hertz“. Um Mitternacht tritt hier der in London lebende Künstler LARAAJI auf, kuratiert von JULIA HOLTER. Er gehört zu den Überraschungen dieses Festivals. Bekannt geworden ist Edward Larry Gordon, nachdem er in den späten 1970er-Jahren von Brian Eno beim Zitterspielen im Washington Square Park in New York City entdeckt wurde und mit ihm seine „Ambient Series“ aufnahm. Jetzt kann man ihm dabei zusehen, wie er in aufwändiger Detailarbeit einzelne Glockentöne, Zithermelodiestücke und Gesang aufnimmt und die Loops anschließend aufeinanderlegt. Das ist ganz hypnotisch und beeindruckend, sorgt aber durch die Beharrlichkeit der repetitiven Töne zur späten Stunde dafür, dass man auf seinen bequemen Sitzplätzen einschläft.

Der Sonntag beginnt spät und mit einem Konzert von AMBER ARCADES aus Utrecht. Sie spielen im „Ekko“, das direkt an einer der hübschen Utrechter Grachten liegt und zu den Orten gehört, an denen man jedes Jahr tolle Newcomer-Bands entdeckt. In diesem Jahr gehören neben den Kanadiern von NAP EYES und den nicht mehr allzu unbekannten Chicagoern WHITNEY auch AMBER ARCADES um die Musikerin Annelotte de Graaf dazu. Die 27-jährige Sängerin ist nicht nur Musikerin, sondern arbeitet auch als Juristin bei den Kriegsverbrechertribunalen der Vereinten Nationen. Nicht nur politisch, sondern auch live klingt die dream-poppige Band, die übrigens sehr an die im letzten Jahr an dieser Stelle spielenden Widowspeak erinnert, mit ihrem Debütalbum „Fading Lines“ sehr vielversprechend. Im nächsten Jahr spielen AMBER ARCADES sicher auf einer der größeren Bühnen auf dem „Guess Who“.

Abends gibt es mit SWANS, TORTOISE und SUUNS noch drei großartig laute, beeindruckende Konzerte. Nur die Aufnahmefähigkeit ist inzwischen nicht mehr ganz so groß. Denn letztlich war es wie immer auf dem „Guess Who“: Das Line-Up ist so voll, dass man am Ende positiv überfordert ist. Man ist froh, so viele Neuentdeckungen gemacht zu haben und gleichzeitig Lieblingsbands gesehen zu haben. Und muss auch ein bisschen bedauern, dass man sich nicht vierteilen kann, um diesem großartigen Festival gerecht zu werden.

www.leguesswho.nl

Autorinnen:
Lisa Forster
Anina Falasca

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