Meme-Kultur: Wem „gehört“ ein Song?

In Bautzen war in diesem Jahr der 10. August nicht nur vom Christopher Street Day (CSD) mit 1.000 Teilnehmern geprägt, sondern auch von einer rechtsextremen Gegendemonstration mit fast 700 Teilnehmern. Letztere konnten ihre Parolen fast völlig ungehindert herausposaunen, u.a. den Missbrauch des Partyhits „L’amour Toujours“ (2001) von GIGI D’AGOSTINO – sogar mit passenden T-Shirts. Seit Herbst 2023 wird das Liebeslied im Netz und auf öffentlichen Veranstaltungen zur nationalistischen Hymne umdefiniert: täglicher Hass auf Migranten statt tägliche Liebe sozusagen. Theoretisch hätte ja das originale Liebeslied gut auf den CSD gepasst. Zumindest ist es in diesem Jahr wieder in die deutschen Charts eingestiegen. Dass dies möglich ist, liegt zum einen am Rechtsruck und zum anderen an der allgegenwärtigen Meme-Kultur. Was lässt sich daraus lernen?

Zunächst einmal hat Gigi D’Agostino sich vom Missbrauch seines Songs distanziert und darauf hingewiesen, dass es ein Liebeslied ist. Als italienischer Eurodance- und House-DJ gehört er aber natürlich ganz in die postmoderne Remix-Kultur. So befand sich auf dem gleichnamigen Album von 1999 nicht nur die fünfte und erfolgreichste Single „L’amour Toujours“ sondern auch ein Cover von „The Riddle“ von NIK KERSHAW oder „La Passion“, das auf „Rectangle“ von JACNO fusste. Und natürlich war auch „L’amour Toujours“ zwischenzeitlich gecovert worden, etwa 2021 von der Punkband ROGERS und zwar für eine Sea Shepherd Benefit-Compilation. Also nicht einmal die politische Funktionalisierung dieses Liedes ist neu.

Etwas Theorie: In der Vormoderne galt Musik der Anbetung Gottes und war ansonsten in den Augen der Kirche Teufelszeug. In der Moderne emanzipieren sich auch die Musiker und definieren hiernach mittels Titeln und Texten die Bedeutung eines Liedes. In der Postmoderne kann dann jeder irgendwelche Titel nach seinen Wünschen umdefinieren. Das wird breit genutzt vom Sampling in der Elektro- und HipHop-Musik über Tausende Werbespots bis hin zur Unterlegung von TikTok-Videos von Katzen und Animes mit einem Song der Wahl. Je beliebter so eine Kombination desto eher hat sie die Chance, zum Meme zu werden.

Damit kann auch eine politische Funktionalisierung einhergehen. Besonders eignen sich hierfür Abzählreime, Kinderlieder und Partyschlager. 1992 machten WIZO aus dem Intro-Lied zu Pippi Langstrumpf (1969) einen Anarchie-Song und DIE TOTEN HOSEN 1996 aus dem rassistischen Kinderlied „Zehn Kleine Negerlein“ die Freundschafts- und Saufhymne „Zehn Kleine Jägermeister“. Seit den 90ern ist das ganze Konzept der Rechtsrockband ZILLERTALER TÜRKENJÄGER, bekannte Partyschlager mit neonazistischen Texten umzudichten. Und auf CSDs laufen regelmäßig Pop- und Schlagerlieder, die ursprünglich für ein heterosexuelles Publikum geschrieben wurden.

Ein früheres Beispiel für die Aneignung eines Titels für eine politische und sogar queere Sache wäre das französische Volkslied „Alouette“. Hier ist es ein Küchenlied als Abzählreim, in dem die Magd singt, wie sie Stück für Stück eine Lerche rupft. Dies wurde schon im 19. Jahrhundert von Männern so umgedichtet, wie sie Stück für Stück eine Magd ausziehen würden.
Da es exzessiv von Kinderchören gesungen wurde, geriet es mehr und mehr zum Kinderlied. So erhielt es auch neue kindertauglichere Texte wie „Little Bunny Foo Foo“, über das sich schon THE MOLDY PEACHES amüsierten.
Auch als Liebeslied kann es genutzt werden wie in Blaues Hawaii (1961) von ELVIS mit „Almost Always True“.

Im Coming-of-Age-Drama Les Amitiés particulières (1964) bekam es eine politische Bedeutung. Hier wird das Lied von einem Kinderchor im Zug gesungen, was leider nicht auf dem 2015 wieder veröffentlichten Film-Soundtrack von JEAN PRODROMIDES enthalten ist. Der Junge Alexander hat seine Liebesbriefe zurückerhalten und glaubt nun, sein Freund Georges habe ihn verlassen. Als er „Alouette“ hört, kommt ihm in den Sinn, die Briefe zu zerreißen und aus dem Zug zu werfen. Daraufhin erleidet er eine subjektive Destitution und wirft sich selbst hinterher. Er nimmt sich das Leben. „Alouette“ wird hier also zur Anklage der katholischen Homophobie, die eine Liebe und einen jungen Menschen zerstört.

Die Moral aus der Geschichte ist, sich Lieder nicht von Menschenfeinden nehmen zu lassen. Kultur „gehört“ niemanden. So wie auch das Schimpfwort „Gay“ von der Homo-Bewegung angeeignet wurde, könnte „L’amour Toujours“ von jetzt an auf jedem CSD gespielt werden – im Original natürlich oder auch die Punkrock-Fassung von den Rogers oder eben von einem queeren Artist.

 

Gigi D’Agostino
L’amour Toujours
(Arista/NoiseMaker/ZYX)
VÖ: 21.09.99

Jean Prodromides
Les Amitiés Particulières (Original Movie Soundtrack)
(Disques Cinémusique)
VÖ: 01.01.15

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