1996 spielten Bands wie die FUGEES oder auch HERBERT GRÖNEMEYER beim „Rock im Park“ und schon begannen die Ausverkaufsvorwürfe. Und da war das Festival erst drei Jahre alt. Wie rockig oder gar politisch es 2024 nach 30 Jahren sein kann, ist die Frage. Fakt ist, dass das Event international berühmt ist und in Deutschland einen Haufen eigener Fans hat, die immer wieder zum Nürnberger Zeppelinfeld pilgern. In diesem Jahr kamen als Besucherrekord rund 80.000 Leute, um an drei Tagen etwa 70 Bands zu sehen. Vom 7. bis 9. Juni lockten u.a. GREEN DAY, BROILERS, KRAFTKLUB, MÅNESKIN, DIE ÄRZTE und AVENGED SEVENFOLD.
Kommerzialisierung?
„Rock im Park“ war niemals unkommerziell, sondern immer so gedacht, dass jene, die es nicht zum „Rock am Ring“ geschafft hatten, noch ein Parallelangebot gemacht werden kann. Interessant sind die Ausmaße, die die Verkäufe um das Festival angenommen haben. Neben den typischen überteuerten Fressständen auf dem Festivalgelände fällt hier die wahr gewordene Konsumhölle auf: der „Lidl Rock Store“. Die Discounter-Gruppe Lidl bietet hier alles, was Festivalgänger lieben und gleich noch Bollerwagen, um etwa Bierpaletten bis zum Zelt zu ziehen. Dieser clevere Marketing-Move des Unternehmens wird ungläubig von Bands wie Kraftklub kritisiert, die ansehen müssen, wie ihre Fans in Lidl Merch (Hemden, Hüte, Schuhe) herumspringen. Dass nachts im „Rock Store“ eher Partyschlager als Rock läuft, ist einerlei, denn es ist ja auf dem Campingplatz ähnlich.
Überhaupt hat sich über die Jahrzehnte eine Art Festival-Mainstream herausgebildet: gemeinsam gröhlen, Penisse malen, Bierball spielen. Wenn alle Band- und Festival-Shirts tragen, fällt man ohne als individuell auf. Dass Rock-Lifestyle mit „Assi sein“ assoziiert wird, zeigt die soziale Funktion von Mainstream-Festivals: Einmal im Jahr über die Stränge schlagen, um den Rest des Jahres ruhig arbeiten zu können. Das kennt man von der Hangover-Filmreihe.
Dazu gehört, sich VIP-Tickets zu kaufen, um sich Plätze gleich an der Bühne zu reservieren oder selbst im Green Camping-Bereich mit Pavillons Zeltplätze zu besetzen, wo diese verboten sind.
Auch fies: Während der Popsender Energy gigantische Pop-Werbung auf den Stage-Bildschirmen zeigen kann, wird allenthalben die Beteiligung des Rocksenders Star FM verschwiegen.
Postmodernisierung
Geht es denn den Fans noch um Rock? Oder eher um gute Fotos und Videos zum Posten auf Social Media? Fangruppen und Kameramänner sorgen in der Crowd dafür, dass jeder, der will, seinen Feier- und Stagedive-Moment auf den Bildschirmen und Smartphones bekommt. Hier können natürlich auch Peinlichkeiten entstehen: Eine Frau auf den Schultern eines Mannes wird bei COREY TAYLOR (SLIPKNOT, STONE SOUR) von anderen Frauen ausgelacht, weil sie es nicht rechtzeitig hinkriegt, ihr Handylicht anzumachen. Und ein Pärchen macht direkt vor der Bühne vor DOGSTAR ein Foto und geht sofort wieder, weil sie die Band gar nicht interessiert sondern nur KEANO REEVES als Hintergrund von sich selbst. Reeves wird von Zuschauern immer wieder auf seine Filmrollen reduziert, selbst als Dogstar „Just Like Heaven“ von THE CURE covern. Live-Zusammenschnitte und Twitter-Posts auf den Videowänden gehören auch zu dieser Herrschaft des Bildes über die Musik.
Auch postmodern: Political Correctness gegen Rock-Lifestyle. Die Indiepopper von WANDA helfen den Halb-Hiphoppern von Kraftklub aus, um „Territorial Pissings“ von NIRVANA zu rocken. Während aber Sänger MARCO inzwischen nur noch spielt, betrunken zu sein, tritt JOSH HOMME (QUEENS OF THE STONE AGE) wirklich völlig drunk, aggro und horny auf, was die Ärzte-Fans vor ihm peinlich finden. Dabei sitzt bei ihm jeder Song. Homme spielt nämlich die Rolle des bösen Rockstars für eine Nacht, wie er im Song „Make It Wit Chu“ betont. Sein Verhalten wird im Anschluss wiederum von den Ärzten liebend gern parodiert.
Stilistisch könnte man von einer postmodernen Unterwanderung des Rock durch Electro sprechen, wenn der Trancecore von ELECTRIC CALLBOY tagsüber mehr Leute anzieht, als der Poppunk der Ärzte am Abend. Dass Electric Callboy für „Ratatata“ sogar die Kawaii-Mädchen von BABYMETAL featuren, bestätigt dies. Diese Kreuzung von Metal und J-Pop ist hier kein Ärgernis. Ähnliches ließe sich im Crossover-Bereich zur Kreuzung von Punk und Hiphop durch die ANTILOPEN GANG und BODY COUNT sagen.
Politisierung
Nachdem im Sommer 2023 Punks Helgoland stürmten, bauten ab Herbst 2023 Nazis die Partyhymne „L’amour toujours“ von GIGI D’AGOSTINO mit einem rassistischen Text zu einem rechten Meme um, das im Mai 2024 auf Sylt zu einem Skandal führte, als Partygäste das Liebeslied für Hasspropaganda missbrauchten. Darauf entspinnt sich auf dem „Rock im Park“-Zeltplatz die Diskussion, ob man denn das Lied überhaupt noch oder gerade jetzt spielen müsse. Als zwei Männer rassistische Parolen auf dem Riesenrad zu diesem Lied gröhlen und Kritiker angreifen, werden sie verhaftet. Spätestens da fällt manchen ein, sich auf dem ehemaligen Reichsparteitagsgelände der NSDAP zu befinden. Zum Beispiel dirigieren die Punks von Green Day gekonnt die Massen und parodieren so Auftritte von Diktatoren und (Ex-)Präsidenten.
Kraftklub-Sänger FELIX BRUMMER stellt klar, dass er sich Antifaschismus eher wie die Sprengung des großen Beton-Hakenkreuzes auf dem Gelände 1945 vorstellt. Tatsächlich wird aber aktuell in Potsdam dank rechten Spendern die Garnisonskirche wieder aufgebaut. Der um sich greifende Rechtsruck in Deutschland wird präsent, schon weil am 9. Juni Europa- und Kommunalwahlen stattfinden. MADSEN, Wanda, Kraftklub, GUANO APES und die Ärzte spielen Songs gegen die AfD. ZSK-Sänger JOSHI ruft von den Bildschirmen zu Engagement auf, während sich die Ärzte dazu aufschwingen, Demokratie zu erklären („Our Bass Player Hates This Song“).
Nun könnte man irren und sagen, diese Wahlaufrufe bei einem Musikfestival wirken wie die antifaschistischen Kundgebungen zu Ende der DDR: wie sinnentleerte Rituale. Doch erstens werden sie 2024 laut mitgesungen und zweitens haben Millionen Menschen auch nach der DDR etwa an 8. Mai-Gedenken teilgenommen. Die DDR-Rituale wirken tatsächlich bis heute. Allerdings werden sie oft in Frage gestellt.
Politisch stirbt die Meinungsvielfalt ja bereits jetzt: Am Wahlsonntag gewinnt die AfD vielerorts hinzu und gibt so die Aussicht darauf, dass nach der Bundestagswahl 2025 nur noch konservative Parteien von linkskonservativ bis rechtsextrem im Bundestag sitzen könnten. Noch kann man etwas dagegen tun. Rockkultur ist ein Teil davon.