Nils Frahm | „Man gibt auf jeden Fall ein Stück der Freiheit auf!“

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Ab heute ist Victoria in den Kinos – einer der spektakulärsten deutschen Filme der jüngeren Vergangenheit. Aufgenommen als One-Take unter der Regie von SEBASTIAN SCHIPPER, dreht sich der Streifen um Wahlberlinerin Victoria (LAIA COSTA), die sich nach einer Party-Nacht von Sonne (FREDERICK LAU) und seiner Gang zu einem waghalsigen Coup hinreißen lässt. In Echtzeit rauscht man ins Morgengrauen hinein und wird Zeuge, wie sich Eskapismus vor Einsamkeit und Desillusion zu einem Inkubus mit völligem Kontrollverlust entwickeln. Auf der Berlinale wurde der Film bereits für die Beste Kameraführung ausgezeichnet,  nun stehen siebenweitere Nominierungen beim Deutschen Filmpreis (19. Juni, ZDF) an – unter anderem in der Kategorie Beste Filmmusik.

Komponist und Pianist NILS FRAHM hat einen kongenialen Soundtrack dazu geschaffen. Mit seinen neun Titeln dient er dem Film weniger als klassische Begleitung, sondern eher als geschickter Vorgriff auf die Handlungen. Und obwohl Schippers Werk den freiheitsliebenden Kreativgeist Frahm sofort überzeugt hat, war die Zusammenarbeit mit einem Regisseur alles andere als selbstverständlich…

Lange mussten wir auf einen Soundtrack von dir warten, wo deine Musik doch eigentlich dafür prädestiniert ist. Warum hast Du dir die Zeit gelassen?

Ich glaube, Filmmusik ist im Vergleich zur Bühnenmusik relativ „einfach“ zu machen. Die Bilder, die die Musik tragen, sind schon vorgegeben. Solange es geht, wird meine Priorität immer auf eigenen Alben mit meinem Namen liegen. In dem Moment, in dem du als Musiker für einen Regisseur arbeitest, ist der Regisseur der Chef und du arbeitest für ihn.

Man gibt also ein Stück der Freiheit auf?

Man gibt auf jeden Fall ein Stück der Freiheit auf! Man ist Dienstleister. Ich hatte schon viele fiese Jobs in meinem Leben, deshalb bin ich da vorsichtig geworden.

Wofür würdest Du deine Musik niemals hergeben?

Wenn du als junger Mensch mit Filmmusik anfängst, wirst du zunächst an B-Ware vermittelt, bei der du dich ausprobieren kannst. Das ist vielleicht eine TV-Serie. Ich bin aber ein Kunst-Liebhaber. Aus einer Serie werde ich einfach nicht schlau. Serien sind für mich ein großes Sparschwein, in das Menschen Zeit hineinwerfen, doch sie haben keinen Hammer, um sie wieder rauszukriegen. Computermusik muss auch nicht sein.

Warum nun Victoria?

Einen Film durch Musik zu einem Meisterwerk zu machen, ist fast unmöglich. Victoria war schon ein Meisterwerk. Mich hat die politische Dimension und das Thema junge Menschen in Europa interessiert: diese aussortierte Generation, die durch die Gegend streift und Mist baut. Ganz wichtig war die Begegnung mit Sebastian, der den Film Absolute Giganten gemacht hat – eine Hommage an Hamburg und ein Kultfilm, den ich als junger Hamburger sehr genossen habe. Als ich hörte, dass er einen radikalen One-Shot macht, habe ich gesagt: „Okay, gucken wir uns das mal an!“. Ich hatte Tränen in den Augen. Es musste also passieren. Sebastian fährt mit seiner Arbeit komplettes Risiko. Seine Mittel und Themen liegen auf einem schmalen Grat zwischen Fail und Triumph. Das beschreibt auch meinen Ansatz.

Du hast von Regisseur Sebastian Schipper den Auftrag bekommen, eine  „kreative Stille“ für den Film zu kreieren. Was hat das für deine Arbeit bedeutet?

Diese Atzen-Jungs prollen richtig rum und sind nicht unbedingt einfach mit meiner Musik in Einklang zu bringen. Nach Erstsichtung des Materials war mir klar, dass es die sicherste Methode wäre, einfach keine Musik zu verwenden. Sebastian hatte schon viel an die Schauspieler und den Kameramann  abgegeben, so dass er als Regisseur über die Ton-Ebene noch die Mittel wahrnehmen wollte, die ihm blieben. Wir haben zusammen daran gearbeitet und diese  „kreative Stille“ hat uns die Chance gegeben, die Narrative mitzubestimmen, wo doch schon so viel durch den One-Shot determiniert war. Ich habe nicht immer den Überblick gehabt, was er in dem Film sieht, dafür wusste ich sehr genau, was ich in ihm sehe.

Was hast Du gesehen?

Ich wusste gleich, dass der Film besser davonkommt, wenn kein Hip Hop oder Urban-Irgendwas läuft. Der Fokus wäre dann ein anderer gewesen, deshalb wollte ich schon mein Ding machen. Ich sollte dabei wie eine Kamera in der Vogelperspektive über den Dingen schweben. Oftmals klingt die Musik schon an, bevor das Drama losgeht. Ich gucke mir das menschliche Elend von oben an und öffne einen Kanal in eine größere Sphäre. Wann kann man schon mal Gott spielen? (lacht) Hier durfte ich das. Ich wollte einen Zugang zu den Herzen der Kids im Film schaffen, der Menschen aus gutem Hause vielleicht fehlt. Sie erhalten über die Musik vielleicht eine Ebene der Vermittlung.

Wie bist Du bei den Aufnahmen arbeitstechnisch vorgegangen?

Ich hatte nur zehn kreative Tage, denn ich steckte mitten in Tour und Album-Produktion. Die Instrumente aus meinem Sammelsurium habe ich in das Funkhaus in der Nalepastraße gebacht. Dort habe ich mit meinem Engineer einen großen Fernseher aufgebaut, Mikros aufgestellt und alles auf Aufnahme geschaltet. Jeden Tag habe ich zwölf Stunden gespielt und den Film geguckt. Irgendwann habe ich meine Freunde Anne Müller am Cello und Erik Skotvins an der Gitarre eingeladen. Ich meinte: „Hier ist der Film! Guckt ihn euch an und spielt direkt dazu!“. Ich versuche immer, ein Experiment aus allem zu machen, deshalb fand ich es spannend, das Ende des Films nicht zu verraten. Von diesen spontanen Sachen haben wir viel benutzt. Manches vom Anfang ist dann plötzlich am anderen Ende des Films gelandet. 120 Stücke und sieben Stunden Musik hatten wir.

Was war in diesem Prozess die größte Herausforderung für dich?

Eine Herausforderung war sicherlich, dass ich keine Erfahrung mit Langfilmen habe und dann gleich mit so einem besonderen Film angefangen habe. Dann arbeitet man, denkt sich, dass alles perfekt klingt und hört dann, dass es nicht passt. Die größte Herausforderung war demnach, meine Souveränität einzuschränken.

Mal ehrlich: Wie aufgeregt bist Du, für diese Arbeit beim Deutschen Filmpreis 2015 als beste Filmmusik nominiert zu sein?

Ganz ehrlich: Ich bin bei so was leider gar nicht aufgeregt. Ich komme aus der Punk-Schule und habe nie studiert. Ich glaube nicht an Preise. Ich würde gerne einen Preis für etwas kriegen, das nicht mit Musik zu tun hat. Am Ende mag ich die Rolle des Underdogs einfach am liebsten.

NILS FRAHM
Music for the Motion Picture Victoria
(Erased Tapes)
VÖ: 12.06.2015

www.nilsfrahm.com

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