NTSC – The Reality of the Virtual

Der Slowene Slavoj Žižek ist ohne Frage der Popstar unter den Philosophen. Bereits mehrere Generationen Kunstschaffende haben seine Kulturtheorie rezipiert. Wo passt sie besser hinein, als in das Musikgenre, dass die kulturelle Sackgasse der Gesellschaft, die 80er-Retromanie, zum Prinzip erhoben hat – Synthwave? Das dachte sich die Band NTSC aus Sankt Petersburg. Seit letztem Jahr sind RICARDO MARIN-VIDAL (Vocals, Bass, Theremin), SVYATOSLAV MAXIMOV (Gitarre), RODOLFO NERI (Drums) und SERGEI RYKOV (Keys) im Netz aktiv.

Ihr Debütalbum The Reality of the Virtual zieht seine Inspiration aus einer Lesung Žižeks gleichen Namens von 2004. Im Opener ist der Psychoanalytiker selbst zu Elektrogewaber hören, wie er erklärt, dass die digitale Virtualität nur eine billige Kopie der Realität sei, die aus seiner Sicht selbst nur ein Konstrukt ist. Wir können sie nur vermittels der Erfahrungsmuster nach Jacques Lacan wahrnehmen: durch das Symbolische, Imaginäre und Reale. Während also Beatbastler AKIRA THE DON immer wieder Žižeks intellektuellen Gegner Jordan B. Peterson zu Wort kommen lässt, erweisen NTSC ihm die Ehre.

Nach diesem „Meaningwave“ hebt mit „Retrovision“ das Wave-Raumschiff vollends ab. Marin-Vidal singt mit einer Stimme zwischen CHESTER BENNINGTON (LINKIN PARK, GREY DAZE) und NEIL TENNANT (PET SHOP BOYS) über die Vergangenheit der Zukunft. Zu Ende erhält Meisterdenker Žižek das Wort zurück. Das selbe Thema wird in „Say It Again“ verfolgt, das mit einem ausgereiften Gitarrensolo aufwartet.

Wer eigentlich von der ewigen Nostalgie profitiert, wird in „Alt-Wrong“ klar benannt: Die Alt-Right in den USA, die Dugin-Jünger in Russland und die Neue Rechte in Deutschland verfolgen letztlich das selbe Ziel: keine Renaissance des „Christentums“ sondern von Nationalismus und Faschismus. Ihnen reden Leute wie Peterson das Wort. Ihnen widersprechen Denker wie Žižek.

Wie dieser erfreuen sich auch NTSC an der Popkultur, um Aussagen treffen zu können. So war es die Figur Morpheus aus Matrix (1999), der die Virtualität ein „Gefängnis für deinen Geist“ nannte, auf das sie im ruhigen Elektrorocker „Partners In Crime“ anspielen. Noch rockiger fällt „Burst City“ aus, in dem sie den noch älteren Post-Apocalyptic SciFi-Klassiker I Have No Mouth And I Must Scream (1967) zitieren. Passend wird hier auch mal Rockgebrüll angestimmt. Es geht um Rebellion gegen den digitalen Kapitalismus, der die Zukunft geraubt hat.

Tatsächlich ist Synthwave als unreflektiertes, unpolitisches Gedudel verschrien, wie es von Acts wie ROBERT PARKER, SEPTEMBER 87 oder NEW ARCADES am laufenden Band produziert wird. NTSC beweisen, dass es auch anders geht.

 

NTSC
The Reality of the Virtual
(Selbstvertrieb)
VÖ: 17.10.2019

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