RADIOHEAD – In Rainbows


Aussichtslose Flucht vor dem Mainstream.



Wie sehr sich RADIOHEAD in den 10 Jahren seit dem unwillkommenen Mega-Erfolg von Ok Computer auch bemühten, den langen Tentakeln des Mainstreammonsters zu entkommen, wie sehr sie versuchten, die Musikwelt mit synthetischen Elektroklängen zu provozieren und mit unzugänglichen, dunklen Soundfragmenten zu verstören – kaum eine Band findet quer durch die Vielfältigkeit der Musikgeschmäcker solch breite Zustimmung, Tendenz steigend. Während mit der in Eigenregie unternommenen Onlinevermarktung des inzwischen siebten Studioalbums wieder neue Wege beschritten und die branchenüblichen Mechanismen damit mal eben vollständig außer Kraft gesetzt werden, scheinen es sich die Briten musikalisch gesehen in ihrem eigenen, schier unerschöpflichen Klangkosmos inzwischen richtig gemütlich gemacht zu haben. Herausgekommen ist so etwas wie ein Best-Of-Album mit komplett neuen Songs, das den weiter zurückliegenden The Bends-Zeiten ebenso Tribut zollt wie den jüngeren Elektro-Experimenten.

Zumindest der eingefleischten Fangemeinde begegnet im Neuen aber auch Altbekanntes wie das besinnliche ‚Nude‘ – seit der Ok Computer-Tour im Programm – oder das epische ‚Reckoner‘, das auf die Kid A/Amnesiac-Sessions zurückdatiert und eines der vielen Highlights auf In Rainbows markiert. Der Opener ’15 Step‘ beginnt mit bruchstückhaftem Drumgefrickel und Thom Yorkes trotziger Frage: „How come I end up where I started?“ Schließlich erklingen ein paar schmeichelnde Gitarrenharmonien, ein Kinderchor schreit „Yeah!“ und die Ahnung beschleicht einen, hier vielleicht etwas vorzufinden, von dem man gar nicht wusste, dass man die ganze Zeit darauf gewartet hat. Schnell wird klar, RADIOHEAD wollen sich mit In Rainbows nicht neu erfinden und tun dies gewiss auch nicht. Dafür aber manövrieren sie ihr musikalisches Floß mittlerweile zielsicher und routiniert durch das reißende Fahrwasser der Soundmodulationen, hin zu fabelhaften Rocksongs wie ‚Bodysnatchers‘ und ‚Jigsaw Falling Into Place‘ oder dem großartigen ‚All I Need‘, das mit seiner relaxten Bassspur zunächst an ‚Climbing Up The Walls‘ erinnert, bevor es sich gegen Ende in ein symphonisches Pianocrescendo ergibt. Und wenn bei ‚Videotape‘, das vom Abschiednehmen erzählt, Thom Yorkes eindringlicher Gesang, begleitet von düsteren Klavierakkorden, nach und nach von nervösen Schlagzeugsalven durchbrochen wird, die immer unerbittlicher vorantreiben und schiere Ausweglosigkeit signalisieren, dann ist es wieder da, dieses von RADIOHEAD so kultivierte Gänsehautgefühl, der kalte Schauer, der einem über den Rücken läuft und der zugleich immer auch ein wohliger ist.

Eine ausgewogene Produktion sorgt für die richtige Balance zwischen den Kontrasten von Elektronik und Akustik, Popmelodie und Melancholie, zwischen leisen Tönen und schon mal einem Soundinferno, zwischen immer wieder überraschendem Einfallsreichtum und oft trügerischer Leichtigkeit. Das Album evoziert die bandtypische Melancholie, aber nur selten wird es richtig depressiv (‚Weird Fishes/Arpeggi‘). Viel Sorgfalt liegt im Einsatz der Rhythmussektion, die – bisweilen etwas übermotiviert – immer wieder kalkulierte Brüche ins Songarrangement einbringt, sich diesem aber stets unterordnet. Die Songs klingen organisch und lebendig und entwickeln sich oft anders, nämlich besser als erwartet, dabei ist Thom Yorkes Ausnahmestimme wie immer sehr präsent – mal traurig und zerbrechlich, mal roh und gereizt. Mit erstaunlicher Zwanglosigkeit erschafft In Rainbows eine Welt der Klangfarben, die irgendwo im Unendlichen entsteht und sich ebendort wieder verliert, in der Piano- und Gitarrenmelodien, brummige Synthesizer und verspielte Elektronik eine verschworene Symbiose eingehen, die in großen, glücklich machenden Popsongs gipfelt. RADIOHEAD scheinen ihren Fans ohne das Zwischenmedium Plattenlabel so nah wie lange nicht mehr zu sein und beschenken diese mit einem guten Radioheadalbum – und so was kann ja schnell schon mal zum Album des Jahres werden. So lange die Band jedenfalls solch schöne Arbeiten abliefert, wird der Mainstream immer dort sein, wo RADIOHEAD sind – sorry!

RADIOHEAD
In Rainbows
(Eigenvertrieb)
VÖ: 10.10.2007

www.radiohead.com
www.inrainbows.com

Autor: [EMAIL=arne.wellding@bands-in-berlin.com?Subject=Kontakt von der Website]Arne Wellding[/EMAIL]

FacebooktwitterpinterestlinkedintumblrmailFacebooktwitterpinterestlinkedintumblrmail