40 Mädels und ein Klavier…
Ich war 10. Ich wollte singen. Der ortsansässige Chor gab mir die Chance dazu. Das Repertoire bewegte sich zwischen ‚Hoch auf dem gelben Wagen‘ und DDR-typischem Liedgut. Dennoch, es machte Spaß, viel mehr als in der Schule, wenn es einmal mehr ans benotete Vorsingen ging. Dann kam die Penne, die Wende und ein neues Musiklehrer… Vorsingen, Kampf- und Pionierlieder waren Geschichte. Ab jetzt wurde gerockt! Im Chor natürlich, begleitet von wahlweise einer Akkustikgitarre oder einem Klavier. Wir sangen Songs der Beatles (‚Yesterday‘, natürlich) oder von Keimzeit. Es klang grausam, schief, furchterregend; und dennoch hatten wir bereits 15 Jahre eher das vorweggenommen, was SCALA & KOLACNY BROTHERS heute praktizieren. Die Qualität jedoch ist zweifelsfrei eine andere…
Sicher ist, die Geister werden sich an dieser Platte scheiden. Es wird und kann nicht jedem gefallen, wenn der rund 40-köpfige Mädchenchor aus Aarschot/Belgien unter der Leitung des Pianistenduos STEVEN und STIJN KOLACNY auf Grenzenlos deutsche Super-/Indie-Hits neu intoniert. Die einen mögen behaupten, dass Kinderchöre in der Popmusik nichts verloren haben, „nicht mal bei Badly Drawn Boy oder Pink Floyd“ (Zitat plattentests.de/Lukas Heinser). Fraglich auch die Songauswahl und ob Rammstein, Mia., Grönemeyer, Die Toten Hosen und Kraftwerk auf einer Platte gemeinsam funktionieren können. Problematisch, ob vier handvoll Mädchenstimmen (Durchschnittsalter 20 Jahre) und ein Klavier der Intensität von ‚Tausend Tränen Tief‘ (Blumfeld), dem augenzwickernden Witz von ‚Ein Kompliment‘ (Sportfreunde Stiller) oder der Traurigkeit von ‚Junimond‘ (Rio Reiser) gerecht werden können.
Das Vorgehen von STEVEN und STIJN KOLACNY ist immer das gleiche. Die Songs werden quasi seziert bis lediglich die Grundmelodie übrig bleibt.
Der Einstieg mit Mia.s ‚Hungriges Herz‘ ist grandios. „Sag mir, wie weit, wie weit, wie weit, wie weit willst du geh’n?!“ – schon im Original ein kraftvolles, wunderbares Liebeslied, erfährt es durch SCALA eine überaus gelungene Neuinterpretation, nimmt dem Song seine entzückende Sprödigkeit und ersetzt diese mit heilender Harmonie.
‚Du trägst keine Liebe in dir‘ (Echt) aus dem Munde von pubertierenden Mädchen erhält einen großen Authentizitätsbonus, ist aber ansonsten fad.
Grönemeyers ‚Mensch‘ wirkt zerbrechlich und funktioniert als SCALA-Version bestens. Ganz im Gegenteil zu ‚Ein Kompliment‘ der Sportfreunde Stiller. Die gleichsam große Portion Humor und Romantik des Originals kann ein Mädchenchor einfach nicht transportieren.
Die Interpretation von Rammsteins ‚Mutter‘ gleicht der von ‚Engel‘, mit der SCALA, 2004 in Deutschland noch kaum bekannt, zunächst auf Radio Fritz Furore machten.
‚Die perfekte Welle‘ (Juli) ist schon im Original verzichtbar, wie auch ‚Hier kommt Alex‘ (Die Toten Hosen), wenngleich dieses Cover auf Grund seiner Abwegigkeit einen gewissen Reiz beinhaltet. Weniger absurd hingegen mutet die Version von ‚Denkmal‘ (Wir sind Helden) an. Wenn 40fach „Hol den Vorschlaghammer!“ angestimmt wird, hat das Power und Espirt und ein gute Portion Witz.
Einen Pluspunkt gibt es für SCALA dafür, dass sie SELIGs ‚Ohne Dich‘ aus der Mottenkiste geholt haben, den Minuspunkt für die Interpretation, die der wunderbar rauhschnoddrigschnulzigen Ballade von Jan Plewka nicht gerecht wird. Umgekehrt funktioniert das beim geschmeidig-öligen Blumfeld-Song ‚Tausend Tränen Tief‘ wiederum ganz hervorragend.
Die wirklich interessanteste, weil abwechslungsreichste und innovativste Coverversion gelingt SCALA & KOLACNY BROTHERS überraschender Weise mit ‚Das Modell‘. STEVEN KOLACNY am Klavier interpretiert den Kraftwerk-Klassiker als beschwingten Boogie.
Und am Ende – na klar – der fast obligatorische ‚Junimond‘ von Rio Reiser. Kommerzielle Berechnung hin oder her, die zarten, hellen und klaren Stimmen von SCALA wirken hier wie bei keinem anderen Song tatsächlich ergreifend und geben diesem Lied voller Traurigkeit eine überaus angemessene Interpretation.
Wiklich interessant ist Grenzenlos jedoch nur dann, wenn die Dynamik im Zusammenspiel zwischen Chor und Piano nicht auf der Strecke bleibt. Zu oft werden die Songs ihrer ursprünglichen Intensität beraubt, wirken leer und monoton.
Insgesamt bleibt ein sehr gespaltener Eindruck, der zusätzlich vom medialen Megahype dieses anfangs durchaus gewagten Projekts getrübt wird.
SCALA & KOLACNY BROTHERS
Grenzenlos
(PIAS/ Rough Trade)
VÖ: 07.10.2005
SCALA & KOLACNY BROTHERS live am 4.11.2005 im Huxleys Neue Welt.
www.kolacny.com
www.scalachoir.com
www.piasrecordings.de
Foto: © Alex Vanhee
Autor: [EMAIL=jana.schuricht@b-i-b.de?Subject=Kontakt von der Website]Jana Schuricht[/EMAIL]