The United State of Artistry


Stroszek – Eine Ballade.



In „Touching from a Distance“, der Biographie von Deborah Curtis, rekonstruiert die Witwe des Joy Division-Frontmanns folgendermaßen jene Selbstmordnacht zum 18. Mai 1980: Ian Curtis erhängt sich zur A-Seite von „Idiot“ (Iggy Pop), zuvor noch führt er sich den Werner Herzog Film „Stroszek“ aus dem Jahre 1977 zu Gemüte; David Lynch, der sich zwecks Dreharbeiten zu „The Elephant Man“ zeitgleich in England aufhält, sieht die Übertragung des Films im Fernsehen ebenfalls: „I had missed the beginning of it so I thought it was some real documentary. I was just captivated in the first two seconds, I had never seen anything like it.“

Im Zentrum des Filmes steht Straßenmusiker und Multiinstrumentalist Bruno Stroszek, welcher nach zweieinhalb frisch hinter schwedischen Gardinen abgesessenen Jahren beschließt, nach seiner Entlassung ein neues Leben zu beginnen. Es schließt sich ihm die Prostituierte Eva an, gemeinsam wollen sie der Halbwelt Berlins entfliehen und wagen den Schritt in Richtung unbekannter Zukunft. In Amerika versuchen die beiden Fuß zu fassen, doch augenscheinliches Glück währt nicht lange und bald bröckelt die idyllische Fassade: Die Vergangenheit ist als Passagierin mitgereist, die Annäherung zwischen Stroszek und Eva schlägt in Entfremdung um, die Freiheit entpuppt sich als ein Gefängnis, dessen sich Eva befreit, indem sie durchbrennt. Stroszek erscheint nur noch der Freitod als Ausweg: Durch die Schrotflinte küsst ihn die Ewigkeit.

Als unehelicher Sohn einer Prostituierten 1932 in Berlin geboren, verbringt Bruno Schleinstein seine Kindheit und Jugend in Heimen, Besserungsanstalten und Heilstätten, wo Ärzte an vermeintlich geistesschwachen Kindern mit Impfstoffen herumexperimentieren. Im Alter von 23 wird er als „geheilt“ entlassen, zeitlebens als geistig Zurückgebliebener von der Gesellschaft verstoßen. 1970 wird er portraitiert in „Bruno, der Schwarze – Es blies ein Jäger wohl in sein Horn“, einer Dokumentation über Berliner Außenseiter. Durch Zufall sieht Werner Herzog das Format und findet in Bruno S. den Hauptdarsteller, den er für sein nächstes Projekt sucht: „Jeder für sich und Gott gegen alle“, ein Historienfilm über den „rätselhaften Findling“ Kaspar Hauser. Herzog engagiert Bruno S. trotz gänzlich fehlender Schauspielausbildung, worin wiederum seine Stärke liegt: Schleinstein besticht durch jene Erfahrung, welche durch das auferlegte Studium des Lebens vermittelt wird und immerzu präsent ist in Blick, Bewegung, Aussprache, Aussage; im Ausdruck gleichermaßen fern wie nah.

Herzog verpflichtet Bruno S. daraufhin auch für seinen nächsten Film, die Literaturverfilmung von Georg Büchners „Woyzeck“, einem Meisterwerk der deutschen Literatur. Im letzten Moment jedoch entscheidet sich Herzog für eine Umbesetzung der Hauptrolle: Klaus Kinski erscheint ihm in der Rolle des Protagonisten geeigneter als Schleinstein, sodass er die „Woyzeck“–Verfilmung direkt an die Dreharbeiten zu „Nosferatu“ anschließt. Stattdessen bietet Herzog Bruno S. die Hauptrolle in „Stroszek —— Eine Ballade“ an, dessen Drehbuch er ihm auf den Leib maßschneidert: Diverse Episoden wie Drehorte besitzen biographischen Hintergrund („In den Heimen fing es an, in den Gefängnissen hört es auf!“); der Name „Stroszek“ selbst stellt eine Reminiszenz an Herzogs „Lebenszeichen“ von 1967 dar. Zum damaligen Zeitpunkt vielmehr aus Projektnot entstanden, gilt der Film heute als ein Klassiker und Bruno Schleinstein als Kultfigur, als „der unbekannte Soldat des deutschen Films“ (Werner Herzog).

Bruno S. is a man to me
You’re just some dude with a stilted attitude
That you learned from TV
——
Elliott Smith, ‚Color Bars‘

Autor: [EMAIL=veronique.homann@popmonitor.de?Subject=Kontakt von der Website]Veronique Homann[/EMAIL] / Blog: FacebooktwitterpinterestlinkedintumblrmailFacebooktwitterpinterestlinkedintumblrmail