XIU XIU – Always


Schwere Kost, like always.



Du bist also ein Freak… – queer in einer Welt voll von konservativen Irren und übersättigten Fashion-Zombies, die dich am liebsten in der Klapse sehen würden. Du windest dich vor Entsetzen über die offensichtliche Ausbeutung, Gleichschaltung, Machos, Kriegshetze, den Sexismus und Rassismus, die überall um dich herum schwelen. Deinen Freunden und deiner Familie sind schon böse Dinge geschehen. Deine Schulzeit war eine einzige Nötigung. Dein Selbstwertgefühl ist durch Narben gezeichnet. Du bist ein musikalisches Talent.

Was fängst du mit dieser Melange an? Im Falle von XIU XIU servierst du dein Herz auf einem Tablett, du entflammst es zum Klang der Musik und beobachtest, wie es verbrennt.

XIU XIUs Agenda ist man ab dem ersten Track auf Always gewahr. In ‚Hi‘ heißt es: “If you’re wasting your life, say hi/If you are alone tonight, say hi/If you wish you should die, say hi-hi, hi-hi”. Es ist der mit Amphetamine-Beats befeuerte Ruf zu den Waffen für all die Einsamen und Gescheiterten. JAMIE STEWART schraubt seine Fantasien weiter ins Extrem – „If you have poked out your eyes say hi/If when you open your arms Ferdinand gores you in the chest” – bis er sich letztendlich selber isst.

Es ist JAMIE STEWARTs musikalische und lyrische Furchtlosigkeit, welche XIU XIUs Musik tausendfach eindrücklicher macht als so viele andere Gitarre-Synthie-Melancholie-Cocktails. Auf der musikalischen Seite vermischen XIU XIU Postpunk, Techno, Synthiepop, Choräle und Klassik ohne das perkussive Element ins Hintertreffen geraten zu lassen. Lyrisch wird sich nicht nur auf das Selbst fokussiert, sondern die Misere Dritter thematisiert. ‚Gul Mudin‘ ist ein quälender Song über einen jungen Afghanen, der von amerikanischen Soldaten im sportlichen Blutdurst getötet wird. STEWART klingt wie ein betrunkener Opernsänger inmitten des elektronischen Kugelhagels.

Als ob das schon nicht befremdlich genug ist, erschüttert ‚I Luv Abortion‘ nicht nur mit seinem provokativen Titel. Seine Zeilen berauschen dennoch zutiefst, wenn JAMIE STEWART schreit: „There are too many things I cannot be for youuuuu… When I look at my thighs I see death/When I look at my thighs I see death”. Im Zuge dessen wird das Arrangement ausgefallener, verstörender und komplexer. Technobeats, Brass und Hundegebell kreieren alptraumhafte Kopfbilder, die nur schwer bei Seite geschoben werden können. Vielleicht ist das nicht der passende Track vor einem Termin in der Klinik, trotzdem ist diese intime Erzählung einer Abtreibungserfahrung die musikalische Ohrfeige für all jene nichtreflektierenden und kategorisierenden Pro-Life-Verfechter.

Im Duett ‚Honeysuckle‘ mit ANGELA SEO kontrastieren beide Stimmen vehement. STEWARTs melodramatische Gesänge klingen nach Blutergüssen, während SEO zwar gebrochen, dabei aber sehr emotionslos singt – eine Kombination, die das Herz splittern kann. Die Verzweiflung ist eingebettet in einen verstörend fröhlichen, leichten und melodischen Ton. Man könnte sich vorstellen, ‚Honeysuckle‘ im Krankenhausbett zu trällern, während man sich am Rande eines Nervenzusammenbruchs bewegt: „They have told you you’ve been lucky but nothing has changed“. Durch die Zweisamkeit scheint das Paar der Hoffnungslosigkeit zu trotzen, zumindest möchte man es so hören, wenn sie gemeinsam „I’m gonna lie back down and ask for nothing“ konstatieren.

Dem Hörer wird nichts erspart. XIU XIU zwingen die Aufmerksamkeit mit ‚Smear the Queen‘ auf grausame Homosexuellen-Verfolgung: „Throw your arms around my throat/A brick in the small of my back/Smear the queen/They bashed his teeth in/Held his throat till he passed out”. Und wieder wird die Verstörung auch durch die scheinbar unpassend wilde und beschwingte Musik hervorgerufen.

XIU XIU demonstrieren auf Always durchweg und schonungslos wie furchtbar das Leben mitunter ist, wie beschissen man sich als Individuum fühlen kann und erschaffen daraus etwas Wunderliches und Wütendes und sind zu gleich politisch, heftig und herausfordernd. Nicht jedermanns Sache, denn zuerst verlangt die Platte, sich durch die Soundoberflächen zu den Texten zu hören, und wenn dies geschehen ist, macht der Inhalt nicht eher Halt, bevor er sich in das Gehirn gebohrt und sich mit ungemütlichen Bildern vor den geschlossenen Augen festgesetzt hat. Schwer verdaulich!

XIU XIU am 11.04.12 live in Berlin im Festsaal Kreuzberg

XIU XIU
Always
(Bella Union/Cooperative Music/Polyvinyl Records)
VÖ: 23.02.2012

www.xiuxiu.org
www.facebook.com/xiuxiuforlife
www.bellaunion.com/artists/xiu-xiu
www.cooperativemusic.com
www.polyvinylrecords.com

Autor: [EMAIL=alexandra.wolf@popmonitor.de?Subject=Kontakt von der Website]Alexandra Wolf[/EMAIL]

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