Corpse d’Alsace | Wie queer kann Neofolk sein?

Das Berliner Neofolk-Projekt CORPSE D’ALSACE hat in diesem Jahr bereits seine Debüt-LP sowie zwei EPs veröffentlicht. Dahinter steckt der Journalist, DJ und Musiker JEAN CHRISTOPHE LON (48).

Nanu, plötzlich ein Neofolk-Projekt?
Ich hab in den frühen 90ern angefangen, Musik zu machen. Ich spielte in verschiedenen Bands aus dem Dark-Wave-Tape-Underground, die u. a. Neofolk-Sachen gemacht haben. Die waren aber weder gut noch erfolgreich. Unter dem Projektnamen MOTHER OF TIDES habe ich bis 1999 Musik gemacht, hab es dann aber aufgegeben, kurz nachdem ich nach Berlin gezogen bin. Die meisten Sachen dieses Projekts sind allerdings unveröffentlicht geblieben. Vermutlich besser so.

Welcher Neofolk inspiriert dich?
Mein Weg verlief wie bei vielen zu Beginn der 90er über die klassischen World-Serpent-Bands wie CURRENT 93, SOL INVICTUS und DEATH IN JUNE. Bands, die ich zum Teil heute aus politischen Gründen kritisch sehe – vor allem natürlich DEATH IN JUNE. In den späten 80ern und Anfang der 90er wurden DEATH IN JUNE allerdings noch viel in linken Zusammenhängen rezipiert, und kamen ja – zumindest deren Vorgängerband CRISIS – ursprünglich auch aus eher linken Post-Punk-Zusammenhängen. Auf DEATH-IN-JUNE-Konzerten traf man entsprechend Anfang der 90er noch viele Goths, Punks und eher linke Leute. Das änderte sich dann, allerspätestens ab der Rose Clouds of Holocaust-Platte (1995). Das Spiel mit faschistischen Symbolen und Themen nahm eine Dimension an, die es mir unmöglich machte, die Musik noch losgelöst von diesen ideologischen Kontexten zu hören. Nach der Auflösung von World Serpent und dem Bruch zwischen DOUGLAS P. und DAVID TIBET versanken DEATH IN JUNE nicht nur in der musikalischen Bedeutungslosigkeit, sondern auch endgültig in einem unübersichtlichen braunen Sumpf. Zeitgleich drängten immer mehr deutsche Bands auf den Markt, die extrem völkisch daher kamen. Ich hörte dann für eine lange Zeit auf, Neofolk zu hören, weil es mir zu toxisch wurde. Heute höre ich ganz gerne Sachen wie ORDO ROSARIUS EQUILIBRIO oder ROME – obwohl ich letztere nur noch bedingt dem Neofolk zurechnen würde. Das Genre liegt mir am Herzen, auch wenn es nicht mehr diese Relevanz für mich hat, wie es vor 30 Jahren der Fall war.

Und was erwartest du von Musik?
Seit Techno ist Musik als sich entwickelnde Kunstform tot. Sie ist wie die Malerei im Grunde ausformuliert. Alles, was produktionstechnisch möglich ist, wurde bereits gemacht und wir verwalten lediglich das bereits vorhandene Vokabular. Also achte ich wieder deutlich mehr auf ein gutes Songwriting. Bei Minimal Wave, Neofolk oder Ritual gibt es viel schlechtes Songwriting. Drei Akkorde und ein paar Soundscapes machen eben noch keine gute Musik. Minimalismus und Beschissenheit sind toll, wollen aber auch gelernt sein.

Wie würdest du deinen Stil beschreiben?
Ich habe noch ein anderes Musikprojekt, das produktionstechnischer deutlich aufwändiger ist. Bei Corpse d’Alsace geht es darum, Ideen schnell, alleine und ohne kommerziellen Druck rauszuhauen. Ich schreibe die Songs sehr schnell, nehme sie sofort auf und veröffentliche sie. Deshalb klingen die Aufnahmen oft etwas roh und schlampig. Aber das ist mir egal, denn es gibt für mich keine Notwendigkeit, dass irgendwer die Musik gut findet.

Findet sie denn keine Zuhörer? Immerhin hast du zur letzten Left/Folk-Compilation Alma den Song „The Day I Kill Myself“ beigesteuert.
Doch, klar. Ich bekomme schon positives Feedback oder auch hin und wieder mal eine Anfrage, live zu spielen. Das freut mich sehr, aber darum geht es bei Corpse d’Alsace nicht wirklich. Das Projekt ist für mich in erster Linie ein Ventil, um meine Depressionen und sozialen Ängste zu verarbeiten. Deshalb spiele ich auch bisher nicht live. Ich habe teilweise schlimme Panik-Attacken und möchte die lieber nicht vor Publikum ausagieren. Ich hab neulich mal eine Dokumentation über ROBBIE WILLIAMS gesehen, in der er u. a. darüber redet, dass er vor Jahren bei einem Konzert eine Panik-Attacke hatte, die über die ganze Show anhielt. Das hat ihn offenbar stark traumatisiert und ab da ging es tatsächlich auch bergab mit seiner Karriere. Diese Geschichte habe ich als unglaublich beklemmend wahrgenommen, weil ich das so gut nachvollziehen konnte. Nicht, dass ich mich hier mit Robbie Williams vergleichen möchte, aber sein Schicksal an dieser Stelle war mir einfach unglaublich nah.

Würdest du zumindest deine EP Rosa Armee Fraktion als queeren Neofolk beschreiben?
Schon bei der LP What Else Is There But Death And Buggery? habe ich versucht, ironisch an die Neofolk-Klischees heranzugehen. Viele Neofolk-Bands verwenden u. a. Samples aus politischen Reden, vor allem um ihre Musik als intellektuelle Konzeptkunst auszuweisen. Ich habe auf der Platte in „Für Karl“ beispielsweise stattdessen einen Filmdialog zwischen Nicholas Cage und CHER verwendet. Klingt erstmal genauso, ist aber aus meiner Sicht eine Subversion des Genres. Das ist es, was ich unter „queering Neofolk“ verstehe. Auf Rosa Armee Fraktion habe ich dieses Spiel – vor allem im Bereich der Symbole – etwas ausgebaut. Der Plattentitel, das Cover und der Titeltrack sind natürlich nicht wirklich als Aufrufe zur Gewalt zu verstehen. Ich habe mich einfach gefragt, warum es keinen queeren Terrorismus gibt, und wollte diese Idee mal bis zum Ende durch deklinieren.

Provokative Parolen könnte man doch auch mit Punk umsetzen. Ich denke da an „R.A.F.“ von WIZO.
Das, was nach 1976 aus Punk geworden ist, interessiert mich nicht wirklich. Ich bin mehr so der Post-Punk-Typ. Natürlich gibt es hin und wieder auch ganz coole Sachen. Ich mag zum Beispiel den Depro-Punk von CHAOS Z ganz gerne.

Corpse d’Alsace auf Bandcamp

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