
Auf LINDEMANN ist Verlass. Kaum hat TILL seinen #MeToo-Skandal einigermaßen verdaut, findet sich im Bundestag eine relevante Gruppe Politikerinnen zusammen, die sich ein Sexkaufverbot nach dem sogenannten Nordischen Modell vorstellen können. Sie stammen vorrangig aus der CDU/CSU-Fraktion und möchten das aktuelle Prostitutionsgesetz reformieren bzw. abschaffen. Und siehe da: Der aktuelle Lindemann-Song vom 1. Oktober ist „ein Hoch auf die Prostitution“. Irgendwie waren Popmusik und käufliche Lust schon immer verbandelt. Oder etwa nicht?
Zu diesem Thema beginnt die Popmusikgeschichte gewöhnlich mit dem Jahre 1930: Der Song „Love For Sale“ von COLE PORTER tauchte im Musical The New Yorker auf und wurde erst zum US-Hit und dann zum Jazzstandard. Das Thema wurde dann in den prüden 40ern und 50ern möglichst umgangen. Dafür gab es in den 70ern eine ganze Flut von Songs, die Prostituierte beschrieben: „Take A Walk On The Wild Side“ (LOU REED), „Sweet Painted Lady“ und „Island Girl“ (ELTON JOHN), „Roberta“ (BILLY JOEL), „Killer Queen“ (QUEEN), „Roxanne“ (THE POLICE), „Trick Of The Light“ (THE WHO) und „Bad Girls“ (DONNA SUMMER), um nur einige zu nennen. Spannend wurde es, wenn Sängerinnen lyrisch selbst die zynische, leicht anklagende Rolle der Prostituierten oder Stripperin übernahmen, wie CHER („A Woman’s Story, 1974) oder TINA TURNER („Private Dancer“, 1984).
Den Weg raus aus der Abhängigkeit bestritt dann natürlich MADONNA 1986 im Musikvideo zu „Open Your Heart“. Der Gute-Laune-Lovesong wird hier zur Befreiungshymne, das Video zur Hommage an MARLENE DIETRICH und LIZA MINNELLI. Madonna selbst spielt eine Stripperin in einem Nachtclub. Sie tritt vor mehreren Voyeuren in einer Peep-Show auf. Derweil will ein kleiner Junge (Kinder-Model Felix Howard) dort zum ersten Mal eine nackte Frau sehen und wird verscheucht. Am Ende flieht Madonna mit ihm tanzend vor dem Clubbesitzer. Der Knabe, der die unschuldige Liebe verkörpert, begleitet sie so in die Freiheit.

1995 folgte eine Single, die nicht nur die Zeile „Open your heart“ ebenfalls im Refrain hatte, sondern im Musikvideo zentrale Ideen aus dem Clip zu „Open Your Heart“ übernahm und noch weiter dramatisch zuspitzte: „First Time“ von THE KELLY FAMILY. Der schnulzig-romantische Erste-Liebe-Song wurde begleitet mit einem historistischen Sittenbild: Sängerin PATRICIA KELLY spielt hier eine Prostituierte, die im 19. Jahrhundert in einem Bordell anschaffen muss. Diese legt sich selbst die Tarotkarten – Symbol für ihr damals unentrinnbares Schicksal. Dann geschieht eine einfache menschliche Geste: Auf der Straße schenkt ihr ein junger Mann (gespielt von ihrem Bruder PADDY) einen Apfel und sofort verlieben sie sich ineinander. Brüderchen ANGELO fungiert als Liebensbote zwischen den beiden. Er führt also die Rolle des Liebesgottes Amor fort, den er schon im Musikvideo zu „An Angel“ verkörperte. Als der Zuhälter ihr sogar den Kontakt zu dem Knaben entzieht, nimmt sich die Prostituierte das Leben. Es ist der kleine Junge, der dafür erfolgreich den Zuhälter verantwortlich macht und um sie an ihrem Grab weint. Die Frau stirbt hier aus Verzweiflung über ihre aussichtslose Lage, was Mitleid im Zuschauer wecken soll. Ähnliche moralische Apelle lassen sich auch in den Sittengemälden der Präraffaeliten finden, etwa in „Das erwachende Gewissen“ von William Holman Hunt (1853).

Mit derartigem Engagement gegen die Prostitution war es in den 1990ern vorbei. Der Siegeszug des HipHop brachte Beschreibungen der Prostitution als normales Lokalkolorit mit sich. Rapper wie 50 CENT übernahmen die Rolle des Zuhälters („P.I.M.P.“) und manche Rapper wie SUGA FREE oder KOKANE brüsteten sich mit einer Zuhälter-Vergangenheit.
2001 coverten CHRISTINA AGUILERA, LIL‘ KIM, MYA und PINK für MISSY ELLIOTT, als historische Prostituierte aufgemacht, „Lady Marmalade“ von LABELLE (1974). Diese Songversion gehörte zum Filmsoundtrack zu Moulin Rouge (2001). Ein neuer postmoderner Popfeminismus sah in Prostitution eine lustvolle Arbeit und keine Unterdrückung mehr. Rapperinnen wie SCHWESTER EWA konnten selbst Prostituierte und Zuhälterinnen sein, sowie Popsängerinnen wie LILY ALLEN selbst von Sexkauf erzählen.
Politisch hat sich jetzt erneut der Wind gedreht und Zuhälter wie SEUNGRI von der K-Pop-Band BIG BANG werden verurteilt. Die Schattenseiten des „ältesten Gewerbes der Welt“ werden nunmehr von ehemaligen Prostituierten wie RUSKANA angeprangert. Tatsächlich ist ja der Hauptanteil der Prostitution erzwungen, die Frauen dort eher Sexsklavinnen als Sexworkerinnen. Viele belügen sich darüber selbst, wie schon LANA DEL REY feststellte („Carmen“). Es wäre an der Zeit für Aufklärung darüber, die auch über Popsongs transportiert werden müsste.