Bei welcher Demo soll der Knabe auf dem Cover mitmachen? Der Politikwissenschaftler Claus Offe stellte 2012 fest, dass den Menschen angesichts der neoliberalen Weltlage vier Optionen offen stünden, um zu protestieren: Erstens Mittelschichtsbewegungen (z.B. die „Indignados“), zweitens spontan-ziellose Proteste (z.B. London 2011), drittens Direktdemokratie (z.B. die „No-Vote-Bewegung“) und viertens Rechtskonservatismus (z.B. UKIP). Zum Start seines 11. Albums verbreitet sich im Netz, Indie-Superstar MORRISSEY wähle jetzt nach dem dritten den vierten Weg. Aber – leider, leider – macht es sich der Sänger leicht und damit jedem Hörer schwer.
Es ist natürlich schön bequem, vom Bett aus zu behaupten, die Medien würden Propaganda betreiben, Regierungen seien generell schlecht und alle Arbeiter und Soldaten versklavt („Spent The Day In Bed“) – klassisch linke Positionen, die jedoch neben seinen Interviewäußerungen gegen Einwanderungspolitik untergehen. Der Herr entstammt nun einmal den Zeiten des Ost-West-Konflikts, als es noch okay war, gleichzeitig national-verschwörungsgläubig und links zu sein. Derlei Personen können sich heutzutage kaum von irgendwem abgrenzen. Man denke nur hierzulande an die grässlichen „Friedensmahnwachen“ 2014/15. Morrissey singt also sowohl mit mächtig Getöse wie ein XAVIER NAIDOO als auch zu feinem Piano wie ein HERBERT GRÖNEMEYER.
So ist die erste Single „Spent The Day In Bed“ durchaus ironisch verstehbar, ähnlich wie der Hinweis vom Opener seines letzten Albums „World Peace Is None Of Your Business“. Und im witzigen „Jacky’s Only Happy When She’s Up On The Stage“ deutet er den Brexit genau wie im Interview positiv (als Option 3), aber auch als impulsiv und kritikunfähig (als Option 2). Der Kriegsgeilheit à la Trump schleudert der Indiepopper natürlich die Teenage-Love entgegen („All The Young People Must Fall In Love“).
Auch dem Thema Kriegsleid widmet er sich genau wie beim Vorgängeralbum mit Mitleid. Suchte er in „Istanbul“ als Vater nach seinem Sohn, sucht er nun in den Trümmern der arabischen Staaten nach Schutz im Schoß seiner Mutter („In Your Lap“). Auch dem ideologischen Minenfeld „Israel“ weicht er nicht aus und leidet mit dessen Bevölkerung – auch an dessen rechter Regierung. Diesen fantastischen Stücken stellt er als Höhepunkte den Antikriegssong „I Bury The Living“ und den Tango „The Girl From Tel-Aviv Who Wouldn’t Kneel“ zur Seite. Der Provokateur schreibt tolle Songs ohne klare Kante. Darum bleibt es schwierig.
MORRISSEY
Low In High School
(BMG)
VÖ: 17.11.2017