Wer nicht mehr weiterweiß, macht halt mal Prog-Rock, dachte vor 17 Jahren der alte Poppunker TOM DELONGE von BLINK-182 und gründete ANGELS & AIRWAVES und einer deren ersten Songs von 2007 war „Call To Arms“. Zufall? Vor sechs Jahren wirkten die einstigen TripHopper von ARCHIVE ebenfalls orientierungslos. Nach der Compilation 25 (2019) und dem Remixalbum Versions (2020) heißt ihr neues Album Call To Arms And Angels – ein schlechtes Zeichen?
Die aktuelle Zusammensetzung der Truppe um DARIUS KEELER und DANNY GRIFFITHS (Keyboards, Produktion) besteht aus POLLARD BERRIER und DAVE PEN (Gesang, Gitarre), den Sängerinnen MARIA Q und HOLLY MARTIN, Bassist JONATHAN NOYCE, Gitarrist MIKE HURCOMBE und Drummer STEVE BARNARD.
„There’s a war still raging“, gemahnt LISA MOTTRAM, die neue Sängerin im Team. Das pianogetragene „Surrounded By Ghosts“ wird hier zu einem würdevollen Song gegen den Ukrainekrieg. Dann wird es düster und ein Rocksong widmet sich dem Thema, das durch eben diesen Krieg in den Hintergrund gelangte: Pinkwashing („Mr. Daisy“). Etwas schwächer fällt der Popsong „Fear There & Everywhere“ von Berrier aus. Dafür hat der Track ein crazy Video. Berrier thematisiert die fortschreitende Künstlichkeit, ja Produktion von „Authentizität“ in der digitalisierten Welt.
Der Weg der letzten Studioalben hatte in die Irre geführt und die Band hat sich hörbar kritisch neu aufgestellt. Statt einen unglaubwürdigem Spagat zwischen Progrock und Elektropop hinzulegen, will man jetzt gute komplexe Pop- und Rocksongs schreiben und das funktioniert. Martin nimmt es z.B. in „Shouting Within“ stimmlich mit aktuellen Popdiven wie DUA LIPA auf, ohne deren R’n’B-Swag bedienen zu müssen.
Hatten sie sich für The False Foundation (2016) gerade einmal ein Jahr Zeit genommen, war nun derart viel Entfaltung möglich, dass man in 17 Tracks auch problemlos zu Soundscape und Orchestral Pop switcht, ohne sich lächerlich zu machen. Auch thematisch ist man offen, so verurteilten vor 10 Jahren schon SUBWAY TO SALLY Gott für den Tod eines geliebten Menschen („Wo Rosen Blühn“) und „All That I Have“ leugnet ihn jetzt gänzlich. Und „The Crown“ klingt wie die Archive-Version von BILLIE EILISHs „You Shoud See Me In A Crown“.
Würden Archive noch mehr Gehirnschmalz in Elektrotracks wie „Daytime Coma“ stecken, sie könnten die aktuellen RADIOHEAD werden, was sie aber nie anstrebten. Nach wie vor ist es das Piano, das Brüche herstellt zwischen verschiedenen Trackparts und hier leitet es in der fünften und sechsten Minute zu einem komplexen Werk über, das über 14 Minuten füllt, Wall of Sound inklusive. Im 28. Bandjahr sind die Londoner ganz zu sich gekommen. Bravo.
ARCHIVE
Call To Arms And Angels
(Dangervisit / [PIAS] Cooperative)
VÖ: 29.04.2022
Live
15.10.22, Berlin, Columbiahalle
16.10.22, Hannover, Pavillon
17.10.22, Hamburg, Markthalle
18.10.22, Dortmund, FZW
19.10.22, Köln, E-Werk
26.10.22, Stuttgard, LKA Longhorn
27.10.22, Wiesbaden, Schlachthof
30.10.22, München, Muffathalle
02.11.22, Erlangen, E-Werk
03.11.22, Dresden, Alter Schlachthof