Es ist dunkel und frostig am Abend des 09. November 2016, an dem sich schwarz gekleidete Scharen in die Kreuzberger Passionskirche drängen, um gemeinsam Ruhe und Spannung zu finden bei einer sehr speziellen Band, dem Dark Jazz-Trio BOHREN & DER CLUB OF GORE. Der breite Backsteinbau bietet rund 200 von ihnen Platz, die es sich im Gestühl und auf den drei Emporen gemütlich machen. Vor dem Altar warten bereits Instrumente auf die Künstler, allen voran ein Piano.
Pünklich um 19:45 Uhr wird der Saal verdunkelt und zwei graue Mäuschen huschen unauffällig wie Bühnenarbeiter zum Piano. Die eine mit langem blonden Haar stellt sich an einem Mikro dahinter auf, die andere mit rasiertem Kopf nimmt auf dem Schemel davor Platz. Es ist die Wiener Sängerin SOAP & SKIN, deren düsterer Singer-/Songwriter-Stil sich bis in die Gefilde von Dark Ambient und Neoklassik ausdehnt. Das Label hat sich also für diese „PIAS-Nite“ einen eingefleischten Bohren-Fan als „Very Special Guest“ ausgewählt. „Lasst uns das Beste aus diesem abartigen Tag machen“, meint sie lakonisch zum Publikum und jeder kann sich denken, welcher Trampel ihr über die Leber gelaufen ist.
Sie fängt an zu spielen und mit ihrer Begleiterin „There’s no trace of god in me“ zu singen, und schon ist sie da, die Korrespondenz mit dem dunklen Veranstaltungsort. Die Musik hat sich von der Religion emanzipiert und eignet sich auch deren Kirche an. Zarte Klaviermelodien („Cynthia“) wechseln sich mit härtesten Tastenschlägen („Big Hand Nails Down“) vor allem von ihrem Debüt Lovetune For Vacuum ab und entfalten in der Akustik des großen Raums eine ganz neue Wirkung. ANJA FRANZISKA PLASCHG singt innigst und zeigt, dass sie coole neue Songs in der Mache hat. Dann tanzt sie für das Publikum („Me And The Devil“). Gelungen!
Nach einer längeren Pause, in der sich bei Licht das Publikum mit Bier und Brezeln versorgen kann, wird es noch finsterer in der Kirche als zuvor. Allein von draußen scheint oranges Straßenlicht durch die Glasaugenfenster. Gewittergeräusche ertönen und die drei Herren kommen im Dauernebel der Maschine herein und bereiten ihre Instrumente und Lichtstrahler vor. Als sie beginnen, gewinnt der Zuschauer den Eindruck, nicht in, sondern vor einer Kirche zu sitzen: Die sichtbare Backsteinwand samt Altar, vor dem die Musiker in ihren Nebelschwaden spielen, wirkt nun wie ein Gotteshaus im Nirgendwo.
Es erklingen langsame Titel über die moderne Gesellschaft: Kneipen, Straßenzüge, Clubs – überall, wo die Sinnlosigkeit menschlichen Tuns angesichts des Todes deutlich wird. Sie stammen aus den vielen Stationen des Club-Schaffens: von Sunset Mission („Powler“), Dolores („Karin“, „Still am Tresen“) oder Black Earth („Constant Fear“). Schließlich sind die Jazzer mitten in ihrer Best-Of-Tour. Für Berlin wählen sie „Ganz Leise Kommt Die Nacht“ von der letzten Platte Piano Nights und passend „Im Rauch“.
Damit sich niemand von der Thematik zu sehr herunterziehen lässt, spricht CHRISTOPH CLÖSER immer mal wieder mit trockenem Humor ein paar nette Worte, bevor er sich wieder seinem Vibrafon widmet oder mit dem Saxofon aus dem Nebel auftaucht. Das dynamische Saxofon ist in dieser Musik das Geräusch, das die ermattende Trägheit aus Piano, Becken und Doppelbass hart durchbricht und dem Hörer die Möglichkeit gibt, ihn mitzunehmen. Die langen Stücke halten ihn fest, ohne völlig zu ermüden und lassen sich wie Progressive-Rocksongs erleben, wenn man sich auf sie einlässt und die trostlose Prämisse akzeptiert.
Nach einer langen, kühlen Nacht in der Kirche gibt es schließlich langen, warmen Applaus aus den Holzreihen.