Zeiten ändern sich dank MeToo

Wenn man bei einem kulturellen Wandel, ja, einem gesellschaftlichen Bewusstseinswandel zusehen kann, ist das faszinierend und erschreckend zugleich. Die aktuelle #MeToo-Debatte um RAMMSTEIN kommt natürlich zu dem Zeitpunkt, als die Band bereits das Ende ihrer Karriere eingeleitet hat und Frontmann TILL LINDEMANN alt wird. Erst noch im letzten Jahr hat er selbstironisch über Objektifizierung gesungen („Dicke Titten“). Nun hat eine Frau auf Twitter ihm etwas vorgeworfen, weitere Frauen in den sozialen Medien folgten und jetzt eine Youtuberin. Diese Möglichkeiten hätten Frauen noch vor 20 Jahren gar nicht gehabt und wären nichts als ungehörte Opfer gewesen, doch jetzt steht der Vergewaltigungsverdacht im Raum.

Gerade die weltberühmten Berufsprovokateure von Rammstein stolpern über die postmoderne Öffentlichkeit. Aus einer prä-#MeToo-Perspektive könnte man sagen: Es war doch etwa 100 Jahre selbstverständlich und okay, dass auf After-Show-Partys junge Groupies einvernehmlich und nicht-einvernehmlich mit ihren Stars schliefen! Und aus einer prä-Missbrauchsskandal-Perspektive könnte man sagen: Es war doch rund 2.000 Jahre selbstverständlich und okay, dass Autoritätspersonen (Priester, Chorleiter, Lehrer usw.) Minderjährige sexuell benutzten!

Der Schreck von Rockbands und Rappern bzw. von Kirchen und Schulen ist jetzt der, dass offenbar ein geheimer Vertrag aufgekündigt wird: Prestige durch Star-Nähe bzw. beruflichen Aufstieg des Nachwuchses bekommt man für vertrauliche sexuelle Handlungen. Damit an die Öffentlichkeit zu gehen oder gar Anzeige bei der Polizei zu erstatten, war nicht Teil der unausgesprochenen Abmachung! Dass das moderne Patriarchat und die vormoderne Päderastie nicht mehr ihre Untersysteme (Groupie-Casting und Beichte) nutzen dürfen, wäre wirklich emanzipativ. Dafür müssen die #MeToo-Bewegung und der Synodale Weg kämpfen. Tragisch, dass man hier mit Rammstein Verbündete verliert („Halleluja“, „Zeig Dich“).

Plötzlich lassen sich Songs ganz anders verstehen: Im Musikvideo zu „Haifisch“ ist in der Trauergemeinde für Till auch ein Double von MARILYN MANSON zu sehen. Dieser ließ sich für The Golden Age of Grotesque (2003) tatsächlich vom Marquis de Sade inspirieren. Sein #MeToo-Skandal, der durch Ex-Freundinnen ausgelöst wurde, zeigte ihn als nicht-einvernehmlichen Sadisten. Seine Groupie-Casting-Agentin soll zu Till gewechselt sein.
Und wenn Till in Songs erklärt, Sadist zu sein („Ich Tu Dir Weh“) und in Gedichten („Wenn Du Schläfst“), Date-Rape-Drogen zu verwenden, ist möglicherweise doch keine Trennung zum lyrischen Ich vorhanden. Diese hatte der Kiepenheuer & Witsch-Verlag noch vor drei Jahren erklärt und trennt sich jetzt von Lindemann, weil dieser einen seiner Gedicht-Bände stolz in einem Hardcore-Porno zeigt. Dieser Film weist eine gruselige Ähnlichkeit zum Musikvideo von „Platz Eins“ seiner Zweitband LINDEMANN auf. Wie wäre es, wenn sich langsam auch UMG von dem Superstar distanziert? Man hat doch jahrzehntelang genug an ihm verdient.

Und wer nicht glaubt, dass es gerichtliche Konsequenzen für Till Lindemann geben könnte, der höre „Ach So Gern“ und vergleiche ihn mit „I Admit“ von R.KELLY oder „Bad“ von MICHAEL JACKSON. Schein-ironische Selbstbezichtigung ist der erste Schritt zur Wahrheit.

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