Postmoderne Märchen 2

Prinzessinnen, die nicht gerettet und schwule Jungs, die akzeptiert werden? Was ist da los bei Walt Disney? Die neuen Kino- und Streaming-Filme passen zu den Metoo-, Black Lives Matter- und Regenbogen-Wellen, die in den 2010ern die sozialen Medien erfasst hatten. Ist die Postmoderne jetzt wirklich in Hollywood angekommen und erzieht Kinder via Filmgenuss zu Gleichberechtigung und Toleranz? Das klingt zu schön, um wahr zu sein.

2013 analysierte die feministische Theoretikerin Nancy Fraser, wie die neoliberale Wirtschaft sich Stück für Stück ursprünglich feministische Ideen einverleibte und umdefinierte. Plötzlich war es für große Firmen und auch Hollywood-Produktionen hip, die einst unbeliebten „Emanzen“ anzusprechen und darzustellen. Im selben Jahr erschien bei Walt Disney Pictures etwa Die Eiskönigin – Völlig unverfroren, eine radikal andere Interpretation des Märchens von Hans Christian Andersen. Der Film wurde als Neuorientierung des Kulturkonzerns verstanden, weg von den überkommenen Weiblichkeitsbilder früherer Streifen. Es folgten mehrere Machwerke mit starken Frauenfiguren und natürlich ein weiterer Teil.

Zu den Eiskönigin-Teilen gehörten zudem unheimlich erfolgreiche Soundtracks. So wurde der erste über 7 Millionen mal verkauft und inspirierte offenbar Millionen Kinder zum Mitsingen, v.a. den Song „Let It Go“ von IDINA MENZEL. Für den zweiten Soundtrack stellten sich für Cover-Versionen erstaunlicherweise neben Countrysängerin KACEY MUSGRAVES („All Is Found“) auch die Rockbands PANIC! AT THE DISCO („Into The Unknown“) und WEEZER („Lost In The Woods“) zur Verfügung. Für die deutsche Platte sang Deutschpopper MARK FORSTER („Wo Noch Niemand War“). In der US-Fassung gibt es für „Into The Unknown“ ein Duett mit Menzel und AURORA.

Mit den neuen Alice im Wunderland-Realverfilmungen gibt es zwei wichtige Überschneidungen. Erstens sind beide Filme Fantasy-Umdichtungen der alten Stoffe. So ist Die Schneekönigin kein Kunstmärchen und Alice kein Nonsense-Roman mehr. Und zweitens treten sowohl Prinzessin Elsa aus Die Schneekönigin als auch Alice das Erbe ihrer patriarchalen Väter an, die eine als Königin, die andere als Geschäftsfrau. Beide heiraten nicht. Sie geben damit Rollenbilder für Mädchen und junge Frauen ab, die einmal Single-Chefinnen werden wollen. Von einer Abschaffung der Chefetage und einer Arbeitsteilung in Beruf und Familie mit dem Lebenspartner, wie sie der ursprüngliche Feminismus forderte, ist hier nichts mehr geblieben.

Und wie schaut es aus mit den Jungs? Bevor Johnny Depp in den Disney-Alice-Filmen den Hutmacher als Revoluzzer darstellte, spielte er 2004 den Peter Pan-Autor James Matthew Barrie (Finding Neverland). Mit Pan kam Joe Wright 2015 Disney zuvor und präsentierte ein eigenes Fantasyspektakel, das die Vorgeschichte zu Peter Pan klären sollte. Selbiges tat Benh Zeitlin mit Wendy (2020), der auch eine realistischere Fassung aus Mädchenperspektive (Devin France) sowie einen schwarzen Peter Pan (Yashua Mack) zeigen sollte. Selbst eine Neuauflage der Kinderliebefassung von 2003 (Peter Pan) kam 2015 als Peter and Wendy ins britische Fernsehen. Da all diese Filme ziemlich floppten, plant Disney für das kommende Jahr eine eigene Real-Verfilmung (Peter Pan & Wendy). Da er sich an Disneys Zeichentrick Peter Pan von 1953 orientiert, ist hier wohl eher keine emanzipierte Wendy und kein schwarzer Peter zu erwarten. Dafür soll es eine schwarze Tinkerbell (Yara Shahidi) sowie einen neuseeländischen Peter (Alexander Molony) geben.

Dieser Trend zur kulturellen Vielfalt, die etwa Pan noch fehlte, weshalb der Film 2015 arg in die Kritik geriet, wird auch mit dem diesjährigen Animationstitel Luca deutlich. Zwei Jungs lernen sich hier in Italien kennen und lieben. Gesprochen werden Luca und Alberto von den Youngstars Jacob Tremblay (Good Boys) und Jack Dylan Grazer (Es). Dass sich Grazer gerade als bi geoutet hat, dürfte dem Film helfen, doch geahnt haben es Netztrolle schon lange. Auch in den neuen Es-Filmen (2015 und 2019) entspann sich schon eine heimliche Liebe zwischen den beiden Rollen Eddie (Grazer) und Richie (FINN WOLFHARD). Die zuckersüße Grafik von Luca scheint zudem ein Vorbild in der Gay-Kurzfilmanimation In a Heartbeat (2017) zu haben, die Story in dem Liebesfilm Call me by your name (2017). Der Song-Soundtrack besteht aus italienischen Schlagern der 1950er, der Score stammt vom Filmkomponisten Dan Romer, der auch Wendy musikalisch untermalte.

Offenbar wird nur dem männlichen Zielpublikum unterstellt, es zu Toleranz erziehen zu müssen. Ob diese Vielfaltsbemühungen in Jungsfilmen von Seiten Disneys mehr als nur Black- und Pinkwashing sind, bleibt abzuwarten.

 

Frozen. Original Motion Picture Soundtrack
(Walt Disney Records/Universal Music)
25.11.2013

Frozen 2. Original Motion Picture Soundtrack
(Walt Disney Records/Universal Music)
15.11.2019

Wendy. Original Motion Picture Soundtrack
(Sony)
28.02.2020

Luca. Original Motion Picture Soundtrack
(Walt Disney Records/Universal Music)
18.06.2021

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